Blumenkind in Ketten

Teil II

Von Hanna S.



I.
Nach dem Essen ging Selina spazieren. Lief und lief, bis die Sohlen schmerzten. Wie jeden Tag. Stundenlang. Ohne anzuhalten. Der Weg war beschwerlich, denn die Kette an ihren Füßen wog mehr als zehn Kilo. Doch die junge Frau lief und lief. Genoss jede Minute des Ausflugs. Gleichmäßig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Metall rasselte über den kahlen, kalten Steinboden. Vier Schritte von der Wand zur Gittertür. Zwei Schritte am Gitter entlang von einer Wand zur anderen. Vier Schritte zurück zur Wand. Immer wieder. Selina lief und lief.
Irgendwann blieb sie stehen. Ihr Atem ging schwer. Durst quälte. Die Zelle, in der sie lebte, maß kaum mehr als zwei Quadratmeter. Der einzige Gegenstand hier war eine Kette, die am Boden befestigt war. Wenn Selina nicht für wenige Stunden durch den Kerker kreisen durfte, kauerte sie in der Ecke, unfähig aufzustehen, weil dann jene Kette den Ring um ihren Hals an die Wand fesselte. Tag und Nacht lag sie so da. Angekettet wie eine Kuh im Stall.
Einen Moment hielt sie inne. Saß an die Gittertür gelehnt und betrachtete gedankenverloren ihren vor Schmutz starrenden nackten Leib, die dunklen Mauern, ihre zusammengeketteten schwarzen Füße. Sie sah, dass ihre verfilzten Locken beim Sitzen den Boden berührten. Weil Selina bald nach ihrer Einkerkerung jedes Zeitgefühl verloren hatte, blieben nur die Haare zur Orientierung. Als ihre Mähne das erste Mal über den Po wallte, hatte ihr eine Wärterin den Kopf geschoren. Nun  hingen ihr die Haare wieder wirr bis über den Po. Seither hatte sie Zelle nicht einmal verlassen. Wenigstens drang für ein paar Stunden Licht durch ein Fenster im Gang zu ihrer abgelegenen Zelle. In völliger Finsternis hätte sie nicht  überlebt.
Selina wagte nicht nachzurechnen, wie lang sie so in Ketten lag, wie viele tausend Runden sie erbärmlich durch die enge Zelle geschlurft war. Mühevoll richtete sie sich auf und lief weiter. Gleich würde der Freigang zu Ende sein. Gleich würde sie wieder eins werden mit der spröden Mauer ihres Gefängnisses. Gleich musste sie wieder kämpfen, gegen die Hilflosigkeit in diesem kargen Loch, gegen das Dunkel, gegen tiefe Verzweiflung. Nacht für Nacht. Jahr für Jahr.
Schwer atmend presste Selina das Gesicht gegen die Gitterstäbe. Nicht nachdenken, rief sie in sich hinein. Ruhig bleiben. Nicht in Panik verfallen, um Gottes willen nicht in Panik verfallen! Panik hier in diesem Verlies war das Schlimmste.
Sie hätte die Nerven behalten sollen. Damals, als dieser schmierige Rechtsanwalt auftauchte, ihr Hoffnungen machte – und sie brutal vergewaltigte. Badubakabah. Sie hätte die Wärterin nicht angreifen dürfen. Denn die strenge Einzelhaft, die der Attacke folgte, war grausamer als alle Peitschenhiebe, die sie wöchentlich bekam.
Obwohl sie schon lang im Loch saß, war Selina noch nicht so abgestumpft, um die Situation mit Apathie hinzunehmen. Gnadenlos raste in der endlosen Kerkernacht der immer gleiche Gedanke durch den Kopf: Zweimal sind mir hier die Haare zum Po gewachsen. In all der Zeit habe ich das Verlies nicht einmal verlassen. Nicht einmal! Seit Jahren habe ich die Sonne nicht mehr gesehen! Die Sonne! Lasst mich raus hier! Ich will raus!
Selina schrie. An nichts denken! Ruhig bleiben. Sie lief weiter. Noch durfte sie sich bewegen. Aufrecht gehen. Immer weiter. Vier Schritte von der Wand zur Gittertür. Zwei Schritte von einer Wand zur anderen. Vier Schritte zurück zur Wand. Immer und immer wieder. Vorwärts. Im Kreis. Selina zählte mit.
80 Runden später hörte sie ein Rasseln am Gang. Dann kam Samira, die Tochter einer Gefangenen, und schob wortlos einen Blechnapf durch die Gittertür. Sie war 16 und auf der Insel aufgewachsen. Ein überaus hübsches kleines Mädchen mit Stupsnase, großen schwarzen Augen, vollen Lippen, schlanken Beinen und einem spektakulär prallen Po. Die bloßen, schmutzigen Füße waren mit einer Kette verbunden. Der schweißüberströmte nackte Körper der jungen Frau glänzte im fahlen Kerkerlicht. Samira hatte noch niemals Kleider getragen, niemals die Teufelsinsel verlassen.  Obwohl sie nie ein Verbrechen begangen hatte, war sie dazu verurteilt, die Häftlinge zu füttern. Nachts lag sie neben ihrer Mutter. Angekettet alle beide. Samira schenkte Selina ein mitleidiges Lächeln und schlurfte klirrend davon.
Gierig kniete Selina nieder, beugte sich über den Napf und begann das Wasser zu schlürfen. In den ungezählten Tagen im Kerker hatte die Gefangene Übung darin gefunden zu essen und zu trinken, ohne etwas zu verschütten, denn ihre Hände waren den ganzen Tag über mit dicken Metallschellen auf den Rücken gefesselt. Und in der Nacht.

Etwa drei Stunden, stets morgens, wenn sie noch an die Wand geschmiedet war, wurden ihre Hände vor den Bauch gefesselt und an einer Kette über ihrem Kopf befestigt. So hing sie hilflos an der Mauer. Unfähig aufzustehen. Die Kette am Hals war zu kurz. Fast 20 Stunden lagen ihre Arme in Eisen auf dem Rücken. Doch wozu brauchte sie hier eigentlich Arme. Zumindest diese Demütigung war zur Routine geworden. Längst hatte sich Selina an die Fesseln gewöhnt, spürte in den Schultern kaum Schmerz mehr. Als sie in Einzelhaft kam, lag schon ein Jahr Sträflingsleben auf der Teufelsinsel hinter ihr, wo die vielfache strenge Fesselung den Tagesrhythmus bestimmte.
Selina trank einen Schluck, stand auf und lief weiter. Vier Schritte zur Wand. Zwei zur Seite, vier zurück. Wenn sie wenigstens arbeiten könnte. Egal, wie staubig und heiß es draußen auch war. Der Kampf gegen die Monotonie war ebenso hart wie der Kampf gegen die Panik. Selina trieb Gymnastik, soweit es die Ketten zuließen. Lag auf dem Rücken und ließ verbissen ihre langen Beine durch die Luft kreisen, bis dass das Metall klirrte. Schaffte trotz Handschellen auf dem Rücken 100 Kniebeugen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Jeden Tag mehrmals.
Dann träumte sie. Von blühenden Wiesen. Sah sich barfuß durch eine sonnendurchflutete Stadt spazieren, in einem bunten Rock, Eis essend. Freunde winkten von überall. Arm in Arm im Abendrot.
Selina lief weiter. Vier Schritte zur Wand, zwei entlang der Gittertür, vier zurück.  Danach Kniebeugen. Selinas nackter Leib war traumhaft durchtrainiert. Niemand nahm Notiz davon. Außer Samira. Zahllose Zellenrunden später kehrte die kleine Kerkerhelferin kettenklirrend zurück.
„Die Wärterinnen sind gerade dabei, ein paar sudanesische Spioninnen zu hängen – mindestens zehn. Das dauert“, flüsterte Samira. „Wir haben genug Zeit.“
„Bitte, Samira, bitte.“ Auch Selina flüsterte.
Die junge Frau entzündete eine Zigarette und steckte sie durch das Gitter in Selinas Mund. Samira wiederholte die Bewegung. „Bitte, Samira.“ Selina flehte. „Gern, Selina.“ Gierig steckte Samira ihre Zunge durch die Stäbe in Selinas Mund und ihre Finger in Selinas Scheide. Kurz darauf presste die Gefangene ihren nackten Leib stöhnend gegen das Gitter. Schneller und schneller. Sie begann zu taumeln. Nach wenigen Minuten leckte sich Samira langsam von Selinas Mund nach unten. Genussvoll und gekonnt schleckte sie weiter. Selina stöhnte nicht mehr, sie schrie. Zerrte wild an ihren Ketten. Vom Orgasmus geschüttelt sank sie wimmernd auf die Knie. Zitternd hob und senkte sich Selinas Unterleib auf dem Zellenboden. Samira verstand die Kunst der Liebe phänomenal. Frauenkörper waren ihr in aller Intimität vertraut. Männer weniger. Viele dutzend Mal hatten sie die Inspektoren der Polizei,  die jede Woche auf die Insel kamen, gefesselt und missbraucht. Deshalb waren Samira Frauen lieber.
„Nicht so laut, Selina! Sonst entdecken sie uns.“ Samira lehnte längst am Gitter und rauchte. Doch Selina stöhnte und wimmerte weiter. Unfähig zu sprechen.
Samira schnippte die Kippe weg. „Ich will dich endlich ohne Gitter zwischen uns lieben. Ich habe schon dutzende erfreut, aber mit dir ist es immer am schönsten.“
„Musst nur endlich eine richtige Gefangene werden, du süße Knastmaus“, stieß Selina schwer atmend hervor und lächelte. Sie wusste: Ohne die Zuwendung der Kleinen hätte sie die jahrelange Einzelhaft nicht überlebt. Doch auch Selina gab sich Mühe. Plötzlich stieß sie ihrerseits die Zunge in Samiras liebste Körperregion. Es dauerte nicht lange, da klammerte sich die Kleine keuchend an die Gitterstäbe. Weil sie Handschellen am Rücken trug, konnte Selina Samira nur mit der Zunge liebkosen, das dafür grandios. Die Kleine verdrehte die Augen, rüttelte mit ihrem nackten Leib am Gitter, schrie. Langsam lutschte sich Selina über Samiras Bauch hinauf zu ihrem schon sehr stattlichen Busen. Bei der rechten Brustwarze angekommen, erkannte Selina aus dem Augenwinkel plötzlich zwei Wärterinnen.
Die Peitschenhiebe trafen Samira ebenso unerwartet wie brutal. Die Kleine schrie,  verdrehte die Augen, presste ihren schwitzenden nackten Leib ans Gitter. Immer wieder traf sie die Peitsche. Entsetzt torkelte Selina in die Ecke der Zelle.
„Genug Zärtlichkeit, Ihr elenden Mösenleckerinnen!“, brüllte Chlorisse, die Oberaufseherin und zog eine Kette hervor. „Ab sofort bist Du eine Gefangene wie jede andere auch! Und Deine Mutter wandert nächste Woche an den Galgen! Wurde ja auch Zeit!“
Grob kettete die Oberaufseherin Samiras Hände am Rücken zusammen und stieß sie zu Selina in die Zelle. „Jetzt könnt Ihr Euch lecken so lang ihr wollt!“
Als ihre Tränen getrocknet waren, begannen Selina und Samira sich in ihrer Zelle zu lieben. So lang sie wollten. Tag und Nacht. Ein Jahr lang.
 

II.
Die junge Frau am Ufer weinte beim Anblick ihrer Blöße. Sie trug einen zerfetzten roten Rock. Ihr Oberkörper und ihre Füße waren bloß, die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie ahnte, dass sie gleich ebenso nackt sein würde wie die Ruderinnen in dem Boot, das sie zur Teufelsinsel bringen sollte. Hinter der Gefangenen stand eine ältere Frau. Sie schien Anfang 50, graue Strähnen durchzogen ihr schwarzes langes Haar. Obwohl braungebrannt, sah sie europäisch aus und war trotz ihres Alters sehr schön. Ihr großer Busen wölbte sich noch prall. Sie trug nichts am Leib  außer Ketten. Schweres Eisen zwischen den Füßen, feste Handschellen auf dem Rücken, ein dicker Ring um den Hals. Dazu eine Kette um den Bauch, die durch eine weitere Kette mit der Fußfessel verbunden war, so dass sie etwas über dem Boden hing, um das Gehen zu erleichtern. Der gleichgültige Gesichtsausdruck der Frau ließ ahnen, dass ihr dieser erbärmliche Zustand nicht mehr viel ausmachte. Offenbar war sie in Ketten alt geworden.
Die alte Gefangene setzte sich im Mittelgang des Boots direkt vor die Ruderbank, an der Selina festgekettet war. Immer noch sah sie ohne Emotion geradeaus. Das Holz ächzte, als das Schiff durch die Wellen schaukelte. Die zwölf nackten Frauen stemmten sich klirrend in die Ruder. Alle trugen dicke Fußketten, die Hände waren vor dem Bauch zusammengekettet. Zusätzlich waren die Fesseln am Boden des Boots befestigt. Von morgens bis zum Abend quälten sich die Ruderinnen durch die Wellen, brachten Gefangene, Wasser und Essen auf die Insel. Zurück an Land brachten sie niemanden.
Selina genoss die harte Arbeit als Rudersklavin. Nach drei Jahren in einer dunklen Zelle konnte sie sich an der Sonne nicht mehr satt sehen. Die stete Bewegung auf weiter See tat ihr gut. Es vermittelte ein Gefühl von Freiheit. Trotz der Ketten.
Plötzlich begann die ältere Gefangene neben ihr zu sprechen. „Na, Blondchen, Du kommst doch auch aus Europa? Ich bin die Nina aus Köln.“ Sie sprach deutsch.
Selina stammelte. „Ich bin die Selina aus Bremen. Wie lange bist Du schon hier?“
„Welches Jahr haben wir denn? Bin nicht mehr auf dem Laufenden.“ Nina grinste.
Selina musste überlegen. 1998 war sie hierher gekommen, nach einem Jahr war das mit dem Anwalt passiert, danach drei Jahre im Loch, das jetzt war ihr zweiter Sommer im Ruderboot. „Wir haben 2004!“, antwortete sie nach einer Weile.
„Liebe Güte!“ Nina grinste immer noch. „Ich bin seit 1968 in diesem beschissenen Land. 36 Jahre. Verdammt. Dann bin ich ja jetzt schon 52 Jahre alt. Ich bin damals wegen eines einzigen blöden Joints eingesperrt worden. Zusammen mit so einem Hippie-Mädchen aus den USA. Heather war an allem schuld. Ist aber auch egal.“
„Heather!“ Selina kam vor Überraschung fast aus dem Rudertakt. „Ja, die ist hier auf der Insel. Seit einer Ewigkeit.“
„Na, übertreib‘ mal nicht, Kind. Halt so lange wie ich. Eben 36 Jahre. Sie war recht naiv damals. Aber trotzdem lieb.“ Nina saß entspannt zwischen den Ruderbänken. Ihre Begleiterin zitterte. Sie war es nicht gewöhnt, gefesselt zu sein.
„Heather haben sie damals sofort auf die Insel geschickt“, erzählte Nina, während in der Ferne schon die flachen Kerkerbauten sichtbar wurden. „Ich dagegen durfte das schöne Tabargha in all seiner Pracht erleben. Kaum ein verdammtes Feld, auf dem ich nicht geschuftet habe. Keine dreckige Kerkerwand, an der sie mich noch nicht angeschmiedet haben. Diese nette Kettenkombination trage ich seit 30 Jahren – ununterbrochen. Eines immerhin ist prima: Arbeit hält den Busen straff!“
Selina schaute die alte Frau erschrocken an. Fast kam sie wieder aus dem Takt.
„Keine Sorge, Kleine!“ Nina lächelte. „Da gewöhnt man sich bald dran. Ich kann es mir gar nicht mehr vorstellen, je wieder Kleider zu tragen. Ehrlich! Ich glaube, mich würde Panik packen, sollten sie mir die Ketten je wieder abnehmen.“ Mit dem Knie  wischte sich Nina Schweiß von der Stirn. „Aber das steht ja nicht zu befürchten.“
Was für eine abgebrühte Gefangene. Selina staunte. Vielleicht würde sie selbst in 30 Jahren ihr Dasein ähnlich gleichgültig hinnehmen.
„Was ist mir Dir?“, fragte Nina, „Liegst doch auch schon seit Jahren nackt in Eisen. Bist Du es noch nicht gewöhnt?“
„Nackt sein ist wirklich nicht so schlimm. Aber die Ketten hasse ich wie am ersten Tag!“, antwortete Selina. „Wir müssen hier mit auf den Rücken geketteten Händen schlafen! Und fressen wie Tiere. Es ist die Hölle!“
„Ach, hör mir auf mit der Hölle. Auch daran gewöhnt man sich. Und was Fesseln betrifft, da habe ich schon alles erlebt.“ Nina war nicht aus der Ruhe zu bringen.
Die Begegnung mit dem 52-jährigen Kettensträfling faszinierte und irritierte Selina gleichermaßen. Tage später sah sie Nina wieder. Man hatte ihr die Hände vor den Bauch gefesselt und sie dann an einer Querstange im Hof hochgezogen. Doch die Gefangene zeigte keine Spur von Qual. Leidenschaftlich unterhielt sie sich mit der Frau, die neben ihr hing. Es war Heather. Nach 36 Jahren hatten sich die Häftlinge wieder getroffen. Beide ihrem Schicksal geduldig ergeben. In Fesseln vereint.
 

III.
Der Wind pfiff kalt übers Meer, aber Selina fröstelte nicht. Sie fror schon lang nicht mehr. Nach sechs Jahren völliger Blöße kümmerte sie weder die Hitze Nordafrikas noch der Winter, wenn die Temperatur selten 15 Grad erreichte. Gleichgültig hing sie am Ruder und gab sich dem Rhythmus hin. Am schlimmsten war der Moment, da sich die Teufelsinsel in der Ferne verlor. Vom Festland aus sah sie fast friedlich aus. Doch jedesmal erinnerte Selina dann der Blick auf ihre zusammengeketteten Hände und Füße, wo inzwischen ihre Heimat war.
Kalter Regen prasselte auf die Gefangenen, als sie das Festland erreichten. Am Ufer warteten mehr Polizisten als sonst. Auch ein Offizier stand dabei. In der Hand hielt er ein Blatt Papier. Plötzlich ging alles ganz schnell. Der Mann kam direkt auf Selina zu und brüllte: „Du wirst heute in einen Kerker auf dem Festland überstellt.“ Die junge Gefangene riss verständnislos die Augen auf. Sie begriff noch nichts, da packten sie schon zwei Polizisten und lösten die Ketten, die Selina mit dem Boot verbanden. Dann fesselten sie ihr die Hände auf dem Rücken wieder zusammen. Mit zitternden Knien wankte sie an Land. Was war nur los? Sie konnte nichts mehr zu ihren Mitgefangenen sagen. Sah noch, wie viele Frauen verzweifelt zu weinen begannen. War es ein Traum? War ein Traum in Erfüllung gegangen? Musste sie nie mehr zurück auf die Insel? Aber was erwartete sie stattdessen?
Während des tagelangen Marsches erfuhr Selina nicht, wie ihr geschah. Die zwei Polizisten an ihrer Seite sprachen kein Wort mit ihr. Von früh bis spät schleppte sie die schwere Fußkette über den harten Boden Tabarghas. Langsam und kräftezehrend. Doch die Bewacher hatten keine Eile und schlenderten lässig nebenher. Oft durchquerten sie Dörfer. Dort ketteten sie Selina einfach an einer Mauer fest und gingen ins nächste Wirtshaus. Die Gefangene zwang sich ruhig zu bleiben, wenn sie von Einwohnern jeden Alters umringt wurde. Häftlingszüge kamen hier zwar oft vorbei, aber eine so spektakuläre langbeinige blonde Schönheit wie Selina hatten die Leute offenbar noch nie gesehen. Und berührt. Dutzende schwitzende Hände begrabschten ihren dicken Busen gierig und schmierig. Sie musste es geschehen lassen, denn ihre Hände blieben Tag und Nacht am Rücken gefesselt. Spätestens im dritten Dorf sehnte sich Selina in die stille Zelle auf der Teufelsinsel zurück.
Als sie nach sechs Tagen die Hauptstadt erreichten, war Selina fast am Ende ihrer Kräfte. Der schier endlose Marsch mit gut zehn Kilo Eisen an den Füßen hatte sie körperlich ausgelaugt, die öffentliche Demütigung psychisch fertig gemacht. Auch waren ihre Arme noch nie so lange am Stück nach hinten gefesselt. Die Schultern spürte sie kaum mehr. Umso mehr ihre Fuß- und Handgelenke.
Selina wunderte sich, dass die Häuser, an denen sie vorbei schlurfte, immer edler wurden. Wo bitte sollte in diesem Villenviertel ein Kerker stehen? Mauern gab es hier viele, aber sie waren aus Naturstein und von sattem Grün überwuchert. Eine feine Gegend. Doch was sollte hier ein nackter Kettensträfling? Einige Straßen weiter führten die Polizisten Selina durch ein Tor in einen Garten, der eher einem vornehmen Park glich. Sie gingen über einen gepflegt gepflasterten Weg auf eine stattliche Villa zu. Kurz vor der Terrasse stießen die Bewacher Selina zu Boden und verschwanden.
Da lag sie nun einsam im weichen, sauber geschnittenen Gras und verstand die Welt nicht mehr. Doch sie war zu erschöpft, um über diese skurrile Entwicklung zu grübeln und dämmerte sofort ein. Eine helle energische Frauenstimme weckte sie. Selina blieb liegen, öffnete nur die Augen. Sah nackte Frauenfüße, die in vornehmen Sandalen steckten. Langsam ließ sie den Blick nach oben gleiten, an nackten Beinen entlang, die sehr lang waren und dann in einem kurzen Rock verschwanden. Die Frau über ihr trug ein blaues Business-Kostüm, hatte glattes blondes Haar und war – Selina schrie fast vor Schreck – ihre Schwester Cornelia.
Die Frau lächelte auf Selina herab. „Hallo, Schwesterchen. Habe ich Dich endlich gefunden. War gar nicht so leicht. Na? Ist wohl ziemlich in die Hose gegangen, der  Abenteuertrip. Aber was heißt Hose. Selbst die hast Du verloren.“
Selina knurrte einen Gruß. Cornelia hatte sich nicht verändert. Sie war fünf Jahre älter und hatte  schon daheim in Bremen die kluge Schwester gegeben. Die ordentliche, strebsame Tochter aus gutem Hause. Im krassen Gegensatz zum verträumten Hippie-Mädchen Selina, das nur barfuß in bunten Lumpen herumlief. Cornelia war stets fürsorglich, konnte sich ihren spitzen, überlegenen Ton aber nie abgewöhnen. Auch jetzt nicht, da sie irgendwo in Nordafrika im Garten einer Villa  über ihrer gefesselten, nackten kleinen Schwester stand.
„Ich weiß, Conni, Du hast es immer gewusst, dass aus mir nichts wird. Ich bin eine nichtsnutzige Hippie-Göre und Du die erfolgreiche Juristin“, brummte Selina. „Das war schon immer so. Also mach’s bitte kurz.“
„Na, kleine Lina. Diesmal sitzt Du ja wohl wirklich in der Tinte. Ein Blumenkind wie Du in Ketten! Da musste ich ja wohl eingreifen.“ Energisch schritt sie um Selina herum. „Zum Glück arbeite ich seit einiger Zeit in einer großen Kanzlei in Hamburg mit sehr guten Auslandskontakten. Von dieser Gefängnisinsel haben wir Dich also schon mal runter. Alles weitere liegt jetzt in der Hand des Justizministers. In seiner Villa befinden wir uns übrigens gerade. Wie geht es Dir?“
„Mit geht’s super. Mir fehlt nichts. Das siehste ja“, brummte Selina mit gesenktem Kopf. „Ketten sind sowas von geil. Vor allem, wenn man sie dauernd trägt. Na, und ich habe ja eh immer davon geträumt, ein Leben lang barfuß zu laufen.“
Cornelia stand immer noch vor ihrer Schwester. „Es wurde Zeit, dass ich komme. Lange hättest Du diese Insel wohl nicht mehr ausgehalten, Lina.“
Selina biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass Cornelia recht hatte. Denn Cornelia hatte immer recht. Leider. Nicht ohne Grund war sie erfolgreich, in allem, was sie tat. Selina hatte jahrelang versucht, von ihrer patenten, ehrgeizigen Schwester unabhängig zu sein, sich abzugrenzen. Vergebens. Nun saß sie nackt, mit Ketten gefesselt in der Ferne, und Cornelia stolzierte im Business-Kostüm um sie herum. Im Hintergrund sah sie einen sehr gut gekleideten blonden Mann. Vermutlich Cornelias Kollege. Er musterte Selina verschämt von oben bis unten.
„Ist echt nett, dass Du mir hilfst, Conni. Offenbar bringe ich es im Leben wirklich zu nichts.“ Selina hielt den Kopf weiter gesenkt. Sie schämte sich ihres Anblicks.
„Dein naives Hippietum hatte immer was Fatales. Aber dass Du mal in eine solche Lage gerätst, war nicht abzusehen. Na egal. Der Galgen droht Dir jetzt nicht mehr. Aber Du musst leider darauf gefasst sein, noch einige Zeit im Gefängnis zu sitzen. Zwischen zehn und 20 Jahre hat Minister Badubakabah gesagt. Allerdings in einem deutlich angenehmeren Kerker.“
„Was? Wie heißt der?“, krächzte Selina.
„Der Knast?“ Cornelia schlug einen Aktenordner auf. „El Inar“, beschied sie knapp.
„Nein, der Minister.“ Selina zitterte. „Badubakabah?“
Er war es. Der Anwalt, der sie auf der Insel missbraucht hatte. Breit grinsend kam er angeschlendert. Grauer Zweireiher, offenes Seidenhemd. Jetzt also hatte er es zum Minister gebracht. Dieses Schwein.
„Ah! Die Schwester der reizenden Frau Dr. Hardenberg hat zu uns gefunden! Na, ich kann gar nicht sagen, wer von Ihnen beiden schöner ist!“ Er blickte Selina böse in die Augen. Sie wusste, dass sie besser schweigen sollte.
„Sie haben Glück, dass ihre Schwester eine so charmante Anwältin ist. Normalerweise kehrt von der Insel niemand mehr zurück. Setzen wir uns auf die Terrasse!“ Dann bedeutete er seinem Assistenten, Selina die Handschellen abzunehmen.
„Ihre Füße müssen wir gefesselt lassen“, sagte der Minister. „Das ist Vorschrift.“
Sie saßen an der Tafel und tranken Tee. Selina ließ die Arme kreisen. Endlich war sie die Fesseln los. So nackt und dreckig kam sie sich in der feinen Runde absolut deplaziert vor. Beschämt realisiert sie, wie ihr riesiger nackter Busen weit über den Tisch ragte. Irritiert starrte sie auf das Geschirr. Sechs Jahre hatte sie gegessen und getrunken wie ein Tier. Unsicher packte sie die Tasse, dann den Löffel, rührte mit zitternden Fingern um. Nein, das hier war nicht mehr ihre Welt.
Cornelia, ihr Kollege Lars und Badubakabah unterhielten sich sehr angeregt. Bald begriff Selina, was zu ihrer Verlegung beigetragen hatte: Cornelia bahnte mehrere Geschäftsverbindungen zwischen Tabargha und Hamburg an. Das war der Deal.
Selina schwieg die ganze Zeit. Wollte nur weg von hier. Weg von diesem ekligen Mann und seiner bedrückenden Villa. Der Schande entfliehen, nackt und gefesselt vor ihrer feinen erfolgreichen Schwester sitzen zu müssen, auf die sie einmal mehr angewiesen war. Nichts wie weg! Einfach Ruhe haben.
Als hätte er es geahnt, richtete Badubakabah irgendwann das Wort an Selina. Das Grinsen schien in seinem Gesicht festgefroren.
„Ach ja. Dank der Vermittlung Ihrer reizenden Schwester habe ich verfügt, dass Sie heute noch in das Gefängnis in El Inar gebracht werden. Dort werden Sie 20 Jahre lang bleiben. Dann sind Sie frei. Sie haben Glück, denn in El Inar ist es wesentlich angenehmer als auf der Insel.“
Cornelia lehnte sich mit zufriedenem Lächeln zurück. „Wenn Du raus kommst, bist Du 44“, sagte sie. „Jung genug für ein neues Leben!“ Selina reagierte gleichgültig.
„So, die Zeit drängt. Sie müssen los.“ Der Minister winkte den Wachmann herbei, dann sah er die Gefangene finster an. „Legen Sie die Hände auf den Rücken! Sie werden jetzt wieder gefesselt.“
Selina tat wie befohlen. Mit lautem Gerassel machte sich der Wächter hinter ihrem Rücken zu schaffen. Dann schloss sich das Eisen um die Gelenke. Eng und kalt. Lars sah entsetzt zu. Cornelia drückte der Gefangenen einen Kuss auf die Wange. „Mach’s gut, Kleine! Ich besuche Dich mal.“
Bevor Selina in die Verlegenheit kam, den Kuss erwidern zu müssen, zerrten sie die Wächter weg. Die Kette klirrte über die glatten Fliesen, als sie mühevoll davon schlurfte. Sie sah Abdrücke ihrer schmutzigen nackten Füße im strahlenden Weiß. „Nein, nein“, dachte sie, „das hier ist wirklich nicht meine Welt.“ Sie wollte nur weg von dieser schrecklichen Villa mit all den schrecklichen Menschen.
Zum ersten Mal in ihrem Sträflingsleben freute sich Selina darauf, in einem stillen Kerker an der Wand festgekettet zu werden.



IV.
Als Selina hereingeschubst wurden, schlug die aggressive Stimmung in der Zelle in Aufruhr um. Die Frauen schimpften, schrien, rüttelten an der Gittertür. Als die Wärterin weg war, richtete sich die Wut gegen Selina. Spucken, Schubsen, Hiebe. Selina litt still, konnte sich nicht wehren. Stand an die Wand gedrückt, die Hände auf den Rücken gefesselt, den Kopf gesenkt.
Der Zorn der Zelleninsassinnen hatte einen Grund: Zuvor schon hatten sie in dem  engen, halb dunklen und völlig kahlen Verlies zusammengepfercht leben müssen wie Tiere im Stall. Selina zählte 14 Frauen und schätze den Platz auf weniger als 15 Quadratmeter, drei mal fünf Meter, höchstens. Jetzt waren sie 15 Gefangene in diesem Loch. Und das, wie es aussah, für längere Zeit.
Langsam beruhigten sich die Frauen, beäugten den nackten Neuankömmling aber weiter feindselig. Selina blickte in verhärmte Gesichter, junge und ältere. Bald fiel ihr auf, dass offenbar keine Frau Fesseln trug, dafür aber Kleider. Zwar waren alle zerlumpt, dreckig und natürlich barfuß – dafür weitgehend angezogen. Lediglich in einer Ecke sah Selina zwei junge Sträflinge in bodenlangen Röcken barbusig an der Wand lehnen. Ihnen waren die Hände vor dem nackten Bauch mit einer Kette gefesselt, aber das war eine Ausnahme.
„Schaut euch dieses Tittenmonster an!“, rief eine Frau und zeigte auf Selina, „jetzt wird es wirklich eng hier.“ Lachend drängten sich die Gefangenen um Selina, die es mit geschlossenen Augen ertrug, wie alle teils bewundernd, teils ungläubig ihren Busen betatschten.  Wehren konnte sie sich ohnehin nicht, weil noch niemand ihre Arme nach vorne gekettet hatte.
„Weißt Du, was ich mal gehört habe?“, sagte eine ältere Gefangene, während sie vergeblich versuchte, mit beiden Händen je eine von Selinas  Brüsten zu umfassen: „Frauen mit großen Titten haben es im Leben einfacher.“
„Ja, und?“, flüsterte Selina.
„Kann ich gar nicht bestätigen“, sagte die Frau, grinste und grabschte frech weiter.
„Hey, Nackedei!“, rief eine andere Frau, die in der Zelle offenbar die Wortführerin war, „Du hast uns gerade noch gefehlt! Wie alt bist Du? Wie lang hast Du?“
„Ich bin 24 und habe 20 Jahre“, antwortete Selina leise.
„Bist wohl ein ganz böses Mädchen, was? Gut, dass Du so viele Ketten trägst! Na, macht mal Platz und lasst das Nackedei hinter zu Celine“, befahl die Wortführerin. „Die beiden haben immerhin einiges gemeinsam!“ Die Frauen wichen respektvoll zurück, soweit das in der Zelle ging. Nachdem einige Gefangene an die Wand gerückt waren, sah Selina, dass im hinteren Winkel des Verlieses noch ein weiterer Sträfling saß. Eine wunderschöne junge Frau. Ihre Haut war heller als die der anderen. Und völlig nackt. Sie stammte aus Frankreich. Um ihren zarten Hals lag ein dicker Metallring, von dem eine Kette zu einem Ring im Boden führte. Die Kette war so kurz, dass sie nicht aufstehen konnte. Doch sie hielt ihren Körper aufrecht. Die Eisenschellen über Celines Knöcheln ließen ihre schlanken Füße noch zarter erscheinen. Herrliches braunes Haar hing ihr bis zum Nabel. Eines ihrer ellenlangen Beine lag angewinkelt am Boden, das Knie des anderen drückte sie mit ihren zusammengeketteten Händen gegen die Brust. Aus schwarzen Mandelaugen sah sie Selina fast erhaben an.
Irgendwann sagte sie: „Endlich bin ich nicht mehr die einzige nackte Gefangene hier.“ Celine war, wie Selina bald erfuhr, tatsächlich seit ihrem elften Lebensjahr Sträfling. Zehn Jahre lag sie hier schon in Ketten. Doch Celine wirkte keineswegs verzweifelt. Eher konzentriert. Darauf bedacht, ihre Würde nicht zu verlieren. Es gelang ihr. Unter all den grobschlächtigen Frauen war sie nicht nur die schönste, sondern auch die mit Abstand grazilste. Als einzige nackt und an die Wand gekettet – und doch von atemberaubender Ausstrahlung. Nicht nur wegen des grandiosen Körpers. Es war die stolze Haltung, mit der sie in ihrem Elend saß. Gerade so, als würde sie ein feines Abendkleid tragen und auf einen Kavalier warten.
„Sag mal“, begann Celine, „bleiben Deine Hände heute auf den Rücken gekettet?“
„Schaut fast so aus“, antwortete Selina. „Aber das bin ich gewöhnt.“ Das Mädchen irritierte sie etwas. Wie konnte sie nur so gelassen sein?
„Mich lassen sie auch immer nur mit Handschellen auf dem Rücken von der Kette. Zum Schlafen fesseln sie mir die Hände glücklicherweise wieder vorn zusammen. Ich gelte hier nämlich als Schwerverbrecherin. Alle anderen sind harmlose Diebinnen, die höchstens 15 Jahre sitzen müssen. Meistens weniger.“
„Wie lang hast Du noch?“, wollte Selina wissen.
„30 Jahre“, antwortete Celine, als wäre das ganz normal.
Selina erstarrte. 30 Jahre!
Celine erkannte Selinas entsetzten Blick und begann zu erklären: „Ich war damals elf – also zu jung für den Strick. Nach dem Gesetz darf man erst ab zwölf Jahren zum Tode verurteilt werden. Deshalb bekam ich nur 40 Jahre.“
„Ach, Gesetze habt ihr auch hier in diesem beschissenen Land? Wusste ich noch  gar nicht!“ Selina dachte an Badubakabah und wurde wütend.
Unbeirrt fuhr Celine fort. „Ich bin in Paris aufgewachsen. Ich war zehn, als unsere Eltern mit uns hierher kamen. Mein Vater ist Geschäftsmann und sehr reich. Mein älterer Bruder und meine ältere Schwester sind mit dem Leben in Tabargha leider gar nicht klar gekommen. Sie haben Drogen verkauft. Als die Polizei bei ihnen 20 Gramm Kokain gefunden hat, habe ich alles auf mich genommen, weil sie mich ja noch nicht aufhängen konnten. Hat funktioniert.“ Celine lächelte.
„Na, herzlichen Glückwunsch zu soviel Familiensinn!“, blaffte Selina. „Und die zwei Süßen liegen jetzt irgendwo am Strand, dröhnen sich zu und trinken auf Dein Wohl, während Du im Knast verschimmelst. Spitze.“
„Meine Schwester besucht mich regelmäßig!“, erwiderte Celine trotzig. „Außerdem verschimmele ich hier nicht. Ich habe mein Schicksal akzeptiert. Es geht mir gut.“
„Besucht Dich regelmäßig? Klasse.“ Selina schimpfte umgebremst weiter. „Wahrscheinlich im hübschen Kleidchen und mit feinen Lederschuhen – bisschen nacktes Schwesterchen gucken, was?“
„Meine Schwester ist mir unendlich dankbar! Ohne mich wär‘ sie längst tot. Und im Übrigen ist sie kein Modepüppchen, sondern eine Hippie. Sie kommt immer barfuß zu mir ins Gefängnis.“
„Ach je. Ein Hippie-Mädchen!“ Selina lachte. „Na, das sind die Allerschlimmsten.“
„Du liegst noch nicht lange in Ketten, was?“, giftete Celine zurück. Längst lauschte die ganze Zellengemeinschaft dem Streit der beiden Gefangenen.
„Fast so lang wie Du. Sechs Jahre war ich auf der Teufelsinsel. Das ist die Hölle – dagegen ist das hier ein Sanatorium!“
Ein Raunen ging durch den Kerker.
„Dafür, dass Du so lang in Ketten liegst, bist Du sehr selbstbewusst. Du hast Dich noch nicht in Dein Schicksal gefügt. Oder zu wenig Prügel gekriegt.“ Mit sanftem Schwung strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht. Die Kette zwischen Celines Handgelenken klimperte.
„Ich hab genügend Prügel bekommen! Und hasse alles wie am ersten Tag!“ Selina schrie fast. „Ich kann nichts, nichts, nichts Angenehmes an diesem Leben finden!“
„Du musst Dich an allem freuen, das sich bietet“, sagte Celine, „das habe ich in den zehn Jahren meiner Haft gelernt. Wenn ich aufwache, freue ich mich darauf, dass sie mich für ein paar Stunden los ketten und ich durch die Zelle laufen kann. Dann freue ich mich auf den Spaziergang im Hof einmal im Monat. Dort genieße ich die Sonne, den Himmel und den warmen Boden. Zwei Mal im Jahr besuchen mich meine Mutter und meine Schwester. Das ist das Schönste überhaupt!“
„Und die Zelle? Und die Ketten? Sie werden Dich ja kaum wie ein junges Reh über den Gefängnishof springen lassen!“ Selina stichelte weiter.
Doch Celine war nicht aus der Ruhe zu bringen. „Seit genau zehn Jahren habe ich nicht eine Minute ohne Fesseln verbracht. Doch im Gegensatz zu Dir habe ich die Ketten längst als Teil meines Körpers akzeptiert. Alles Metall gehört eben zu mir. Das musst auch Du ganz schnell lernen, sonst stirbst Du hier an Verzweiflung!“
Am Abend, als Selina neben Celine an die Wand geschmiedet war und stumm ihre zusammengeketteten Hände betrachtete, dachte sie über die Worte der Französin nach. „Ich muss Ketten als Teil meines Körpers begreifen!“ Das hatte Lizzi doch auch immer gesagt. Es stimmte wohl. Selina lehnte sich an die Wand, schloss die Augen, sank in sich und verschmolz in Gedanken mit den Ketten an ihrem Körper.

V.
Selina hätte nie geglaubt, sich eines Tages nach der Teufelsinsel zu sehnen, doch nach fünf Wochen im Loch von El Inar tat sie es. Hier war das Leben unerträglich. Zusammengedrängt hockten die Frauen Tag und Nacht im Halbdunkel, bekriegten sich um Essen, rauften um die raren Zigaretten, stritten sich dauernd oder führten sinnlose Gespräche. Unglaubliche Aggressivität lag in der stickigen Luft, denn die Gefangenen hatten nichts zu tun außer sich zu quälen. Langeweile und drangvolle Enge zermürbten jede hier. Arbeit gab es nicht. Ins Freie durften die Frauen auch fast nie. Nur zweimal im Monat. In Handschellen, im Kreis.
Auf der Teufelsinsel hatte Ordnung geherrscht. Nachts lagen alle Sträflinge an der Wand festgekettet, die Hände auf den Rücken gefesselt. So konnte keine über die andere herfallen. Die meisten waren nach elf Stunden Arbeit sowieso zu müde für Aggressivität. Arbeit! Frische Luft! Sonne! Sehnsüchtig dachte Selina an die Insel, während vor ihren Augen fünf Frauen einer brüllenden jungen Gefangenen die Bluse vom Leib rissen, in Fetzen rissen und sie damit an Händen und Füßen fesselten. Eine neue Bluse würde sie nicht mehr bekommen. „Ich habe noch zwölf  Jahre“, wimmerte sie, „das könnt Ihr mir nicht antun! Zwölf Jahre halbnackt! Was sagen nur meine Kinder, wenn sie mich besuchen?“ Die Frau trug nur noch einen löchrigen Rock. Sie zerrte an den Fesseln, bebend vor Wut. Die anderen lachten. Vorne am Gitter prügelten sich Gefangene um eine Zigarette, die eine Wärterin grinsend durch die Stäbe hielt. Beißen, Stoßen, Kratzen. Unerträgliches Geschrei. Als drei der Kontrahentinnen keuchend am Boden lagen, ging die Wärterin wieder. Die Zigarette rauchte sie selber.
Selina sah, dass Celine keine Miene verzog. Es war, als liefe alle Brutalität in der  Zelle durch sie hindurch. Wenigstens hatten sich die zwei Schwerverbrecherinnen langsam angefreundet. Was blieb ihnen auch übrig. Sie lagen 20 Stunden am Tag nebeneinander an die Wand geschmiedet und waren als einzige völlig nackt. Zum Glück waren ihre Hände vor dem Bauch gefesselt. Der einzig positive Unterschied zur Insel. Vier Stunden durften sie täglich durch die Zelle schlurfen. Dafür wurden ihnen eigens die Hände hinter dem Rücken zusammengekettet. Die Gefangenen  machten sich einen Spaß daraus, Selina und Celine auf ihren mühsamen Wegen durch die überfüllte Zelle zu Boden zu reißen, um dann schadenfroh zu verfolgen, wie sich die zwei Gefesselten angestrengt wieder aufrappelten. Es war die Hölle.
Zu Essen gab es nur hartes Brot und Wasser. Einmal am Tag. Es reichte gerade, um satt zu werden. Ab und zu warfen die Wärterinnen rohe Kartoffeln durchs Gitter. Dann ging das Geprügel der zusammengepferchten Frauen richtig los. Selina und Celine bekamen selten Kartoffeln ab. Es ist nicht gut, 15 Frauen andauernd in ein enges Loch zu sperren, dachte Selina. Das kann nicht gut gehen.
Es ging nicht gut. Der Aufstand brach los, als zwei Wärterinnen die Zelle betreten hatten. Während sie Selina und Celine wieder an der Wand fest ketteten, fielen die Frauen über sie her, rissen ihnen die Kleider vom Leib, fesselten sie und nahmen die Schlüssel an sich. Zelle für Zelle wurde befreit. Die Gefangenen brachten alle acht Aufseherinnen und fünf jungen Kerkerhelferinnen in ihre Gewalt. Vier Wärterinnen hängten sie sofort, die vier anderen, als die Aufständischen merkten, dass keine ihrer Peinigerinnen den Schlüssel für das Haupttor des Kerkers besaß. Über diesen verfügten allein die Polizisten der nahen Wache. Weinend vor Wut rüttelten die Frauen am Gitter. Als die Polizei zum Sturm ansetzte, drohten die Anführerinnen damit, die Kerkerhelferinnen aufzuhängen. Panik und Verzweiflung verleiteten die Sträflinge dazu, alle erlittene Qual brutal zurückzuzahlen. Die fünf Mädchen – Töchter von Aufseherinnen – waren nicht älter als 16. Nackt, mit auf den Rücken gefesselten Händen mussten sie einen Tag hinter dem Haupttor auf kleinen wackeligen Kartoffelkisten stehen, mit einem Strick um den Hals, der über ihnen am Torbogen befestigt war. Sie weinten und flehten. Ihre Mütter baumelten schon seit zwei Tagen im Hof. Opfer gnadenloser Rache.
Selina und Celine bekamen von alledem nichts mit, da sie weiter an der Wand fest gekettet waren. Das rettete ihnen das Leben. Die rebellierenden Frauen begingen einen schweren Fehler. Sie glaubten tatsächlich, die Geiseln würden die Polizisten dazu bewegen, auf die Forderungen einzugehen. Doch die Staatsmacht scherte sich einen Dreck um das Leben von Kerkerhelferinnen. Die Mädchen starben ganz umsonst. Als das Gefängnis im Sturm eingenommen wurde, waren es Polizisten, die als erstes die Kartoffelkisten wegkickten, als wären sie ihnen im Weg.
Über 60 der 110 Frauen im Kerker El Inars hatten sich am Aufstand beteiligt. Am Ende hockten die Rebellinnen nackt im Hof, zusammengekettet, streng gefesselt, und erlebten entsetzt, wie sie weniger wurden. Die Hinrichtungen zogen sich über eine Woche hin. Vier Frauen wurden morgens gehängt, vier abends. Sieben Tage lang. Auf diese Weise endeten auch kleine Diebinnen wie Schwerverbrecherinnen. Eines immerhin hatten die Rebellinnen erreicht: Nach dem Aufstand waren die Zellen nicht mehr überfüllt.
 

VI.
Die Welt war schlecht. Grausam. Gnadenlos. Voll von Menschenmassen, die nicht aufhörten, sich tagein, tagaus selbst zu quälen. Neid, Gemeinheit und Niedertracht hielten das Leben in unerbittlichem Griff. Die Welt war unvorstellbar. Wie die Hölle. Doch diese grausame Welt war draußen. Weit weg. Ausgesperrt. In Selinas Welt, nur in Selinas Welt, herrschte Frieden. Beneidenswerter Frieden.
„Die Welt ist brutal, aber sie kommt nicht zu uns herein“, flüsterte Selina immer und immer wieder. „Was für ein Glück, dass alle Niedertracht dieser Welt draußen bleiben muss. Nur hier gibt es Frieden und Harmonie. Nur hier. Nur hier! Das Gitter schützt uns vor dem Grauen!“
Jeden Tag und jede Nacht jagte sie sich diese Gedanken tausendfach durch den Kopf. Sie musste es tun. Sonst wäre sie verrückt geworden. Denn Tag und Nacht wurden eins in der Kerkerzelle. Und Selina wurde eins mit der schmutzigen Wand, an die sie gekettet war. Tag und Nacht. Von kaltem Eisen gnadenlos umschlossen lag sie da, die kleinste Regung erzeugte lautes Rasseln. Es war längst nicht mehr Hoffnungslosigkeit, die sie quälte – die hatte sie auf der Teufelsinsel erfahren, wo ihr der Galgen drohte. Es war nicht Beklemmung, die sie zu packen drohte - denn die hatte sie in zwei Jahren ununterbrochener Einzelhaft zu unterdrücken gelernt. Es war die unbeschreibliche, stupide, grausame Monotonie des Lebens in einem engen Verlies, gegen die Selina kämpfen musste. Das Wissen darum, 20 Jahre untätig in diesem Loch hocken zu müssen, lähmte ihre Sinne. Wenn sie wenigstens arbeiten dürften! Die Teufelsinsel war brutal, aber die Bewegung jeden Tag in freier Luft half über manche Qual hinweg. Hier im Kerker von El Inar gab es nur Stumpfsinn. Regungslosigkeit im Halbdunkel. Nackte Körper, die in stummer  Verzweiflung verharrten. Noch enger gefesselt konnte man nicht sein.
Die Welt draußen war brutal, nur in diesem Kerker herrschte Frieden. Selina sagte es sich so lang vor, bis sie es glaubte. Anders ging es nicht. Es konnte, es durfte gar nicht anders sein!
Seit dem Aufstand hatte sich in El Inar vieles geändert. Es gab kein ungeordnetes Einsperren mehr. Nun wurden alle Sträflinge grundsätzlich an die Wand gekettet. Wecken morgens um fünf. Kein Frühstück. Gegen sieben kamen die Wärterinnen, lösten an einer Stelle die Kette, die Hand- und Fußfessel verband, und befestigten sie an einem Ring in der Wand. Mindestens drei Stunden lang hingen die Hände der Frauen ausgestreckt über ihren Köpfen. Aufstehen konnten sie nicht, weil die Kette, die ihre Halseisen mit dem Boden des Kerkers verband, dafür zu kurz war. Jeden Morgen die selbe Tortur. Anschließend kehrten die Wärterinnen zurück und erlösten die Sträflinge – um ihnen gleich im Anschluss die Hände auf den Rücken zu ketten. Wenigstens wurden sie dann von der Wand losgemacht und konnten so  durch die Zelle wanken. Die Fußeisen schepperten ohne Pause. Es blieb der einzige Auslauf, und die Gefangenen nutzen ihn, so lang es ging. Wanderten unverdrossen zwei Meter von der Rückwand zur Gittertür, drei Meter daran entlang, zwei Meter zur Mauer zurück. Irgendwann nachmittags gab es die einzige Mahlzeit. Hartes Brot in Wasser. Sie schlürften aus Näpfen. Wie Tiere. Am Abend bekamen sie die Hände wieder vor den Bauch gekettet. Davor wurden sie an die Wand geschmiedet. Ein Mal im Monat durften sie auf dem Hof ein paar Runden drehen – immer sechs Frauen einer Zelle an den Hälsen zusammengekettet. Das Rasseln dröhnte. Zwei Mal im Jahr durften sie Besucher empfangen, sofern überhaupt irgendjemand die nackten Kettensträflinge sehen wollte.
Das war das Leben der Gefangenen von El Inar. Entsetzliche Monotonie. Grauenhafte Langeweile. Zumindest herrschte nun Ordnung. Gewalt unter den Häftlingen war kaum mehr möglich. Und auf diese Variante von Unterhaltung verzichteten die Frauen, die schon vor dem Aufstand hier leben mussten, mit Freude.
Selina verlor jedes Zeitgefühl. Da niemand sie besuchte, dienten als Orientierung mal wieder ihre Haare. Vom kahl geschorenen Schädel bis zu einer ordentlichen Schulterlänge rechnete sie eineinhalb Jahre. Nach drei Rasuren hörte sie auf zu zählen. Sicher war es besser, nicht zu wissen, wie viele Jahre noch vor ihr lagen. Sie hatte Frieden geschlossen mit all den Ketten an ihrem Körper, hatte das Metall als Teil von sich akzeptiert. Still fügte sich Selina in die Routine des Kerkerlebens. Genoss die Sonne, wenn sie hintereinander im Hof kreisten, fünf Stunden, einmal  im Monat. Tauschte mit ihren Zellengenossinnen Zärtlichkeiten aus. Sie gaben Selina Kraft.
Celine hatte sie über die Jahre sehr lieb gewonnen. Die wunderschöne Französin mit dem grazilen Körper, die seit inzwischen 15 Jahren tapfer die unmenschlich lange Kerkerstrafe ertrug und nicht daran verzweifelte, noch 25 Jahre vor sich zu haben. Sie schenkte jedem ein Lächeln. Celine war längst eins geworden mit dem Kerker. Es blieb ihr nichts anderes übrig.
Ebenso Kari, die älteste in der Zelle. Eine liebenswürdige Frau von 44 Jahren, die in ihrem früheren Leben mit einem hohen Beamten verheiratet war, aber plötzlich wegen angeblicher Spionage zu lebenslangem Kerker verurteilt wurde. 21 düstere Jahre hatte Kari schon hinter sich. Ihre drei Kinder besuchten sie regelmäßig.
Debbie war eine kleine dunkelblonde Engländerin mit breiten Hüften und dickem Busen, sehr nett, aber ziemlich dumm. Doch das war wohl besser so. Hätte sie ihr Schicksal scharfsinnig reflektiert, wäre sie vielleicht verrückt geworden. So wie die meisten Ausländer in Tabargha war sie wegen Drogenbesitzes verurteilt worden.    Auch Debbie musste bis zum Ende ihrer Tage in Ketten leben. Ohne jede Chance auf Entlassung. Was das bedeutete, begriff sie offenbar nicht. Debbie war sehr jung. Mit 19 wurde sie eingekerkert, jetzt war sie 23. Ihr drohte ein langes Leben.
Dann waren da noch Tara und Amati, zwei Prostituierte aus der Hauptstadt. Beide Mitte 20, verurteilt zu 30 Jahren. Sie waren verschlossen, fast feindselig, sprachen nur ganz selten. Missmutig hingen sie in ihren Ketten, schnappten dann und wann mit den Zähnen nach einer Wärterin und ertrugen stumm die Peitschenhiebe, die den Attacken folgten. Die Aggression der beiden Frauen loderte.
Selina lehnte an der Wand und betrachtete ruhig die Hände, die über ihrem Kopf festgekettet waren. Ihr fiel es immer schwerer, sich an ihr früheres Leben zu erinnern. Die Zeit, da sie als unbekümmertes Hippie-Mädchen barfuß durch Bremen stromerte, immer darauf bedacht, keine Konvention zu beachten, verschwamm zu einem diffusen Strom von Eindrücken. Selina zwang sich zu erinnern. Vergebens. Die Gefangene konnte sich kein anderes Leben mehr vorstellen.
 

VII.
Der Käfig für Besuche stand in einer Ecke des Hofes. Selina war verdutzt, als sie hinein geführt wurde. Wer mochte sie besuchen? Dann dämmerte es ihr. Cornelia, ihre vornehme Schwester. Sie erkannte sie schon von Weitem. Wieder einmal trug sie ein Business-Kostüm mit kurzem Rock, dazu Schuhe mit hohen Absätzen. Mit wiegenden Hüften stolzierte sie über den Hof auf  den Käfig zu. Selina kniete am Gitter. Die Handschellen auf ihrem Rücken waren mit einer Kette am Boden befestigt. Sie konnte nicht aufstehen. Cornelia wiederum hielt es nicht für nötig, sich auf die Erde zu setzen. Von oben herab sah sie Selina an und lächelte. „Herzlichen Glückwunsch, Lina! Heute ist Dein 30. Geburtstag!“
Selina reagierte nicht. Sie hatte keinen Sinn mehr für Zeit.
„Mitbringen durfte ich Dir leider nichts, außer Früchten. Hier, nimm!“ Cornelia hielt ihr eine geschälte Orange hin. Selina drehte sich weg.
„Wenn Du glaubst, dass ich Dir aus der Hand fresse, irrst Du gewaltig! Was willst Du überhaupt hier? Nacktes Schwesterchen gucken? Ja, Du hast gewonnen!“
„Na hör mal! Immerhin bin ich Deine Schwester.“ Cornelia schien verlegen. „Okay, ich bin nicht nur wegen Dir hier. Ich komme jetzt häufiger nach Tabargha. Ich habe einige Geschäfte angebahnt, die sehr gut laufen. Unsere Kanzlei boomt gewaltig.“
„Bitte verschwinde einfach. Ich lebe mein Leben, und Du Deines. Ich brauch‘ Dich nicht, und Du brauchst mich erst recht nicht.“ Selina war es ernst.
„Leben nennst Du das?“ Cornelia sah angewidert um sich. „Naja, wie Du willst. Ich habe jetzt ohnehin ein Meeting. Mach’s gut!“ Dann stolzierte sie davon.
Kari und Celine, die neben Selina angekettet waren, sahen ihr bewundernd nach. Sie hatten allerdings auch kein Wort der Unterhaltung verstanden.
Kurz darauf kamen Karis Kinder. Zwei junge Männer und eine etwas jüngere Frau. Sie waren fein gekleidet. Offenbar lebten sie gut. Kari küsste sie durch das Gitter, redete wild drauf los, begann immer wieder zu weinen. Umarmen durften sie sich nicht, die Handschellen blieben auf Karis Rücken. Unterdessen trafen auch Celines Mutter und Schwester ein. Durch Selina zuckte ein Déjà-Vu. Marie, die Schwester, war tatsächlich ein Hippie-Mädchen. Ebenso schön wie Celine, Ende 20, gab sich aber unbefangen wie eine 15-Jährige. Ein unverschämt kurzes buntes Kleid zeigte viel, sehr viel von ihren unglaublich langen schlanken Beinen. Maries nackte Füße sahen aus, als habe sie jahrelang keine Schuhe mehr getragen. Die Rasta-Zöpfe hingen bis zur Hüfte. Sie küsste ihre gefesselte Schwester innig.
Selina schenkte Marie nur grimmige Blicke. „Du bist schuld, dumme Hippie-Göre!“, dachte sie, „mit Drogen handeln, und die kleine Schwester muss dafür büßen, 40 Jahre lang. Aufhängen sollten sie Dich, blöde Rasta-Braut!“ Doch Selina hatte beschlossen, Celine nicht mehr auf dieses Thema anzusprechen. Die Kleine war immer noch stolz darauf, Marie und ihren Bruder einst vor dem Galgen bewahrt zu haben. Celines Mutter, eine würdevolle Frau Anfang 50, rang um Fassung. „Mein Kind“, flüsterte sie, „sieh es positiv. 16 Jahre hast Du jetzt schon geschafft.“
Celine strahlte durch die Gitterstäbe des Käfigs. Sie sah es tatsächlich positiv.

VIII.

Selina liebte die Gleichförmigkeit ihres Lebens. Die Ketten schmerzten schon lang nicht mehr. Fast war es, als gaben sie ihr Halt. Die enge Zelle verstand Selina als Sphäre größtmöglicher Behaglichkeit. Der stets gleiche Tagesablauf vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit. Selina war endgültig im Kerker angekommen.
Doch nach Jahren in tiefem Frieden meldete sich plötzlich Wut zurück. Selina saß mit den anderen im Gefängnishof und genoss die Sonne. Drei Stunden waren sie im Kreis hintereinander her geschlurft, jetzt durften sie eine Stunde ausruhen. Selinas Gelassenheit verschwand schlagartig, als sie in der Ferne ihre Schwester Cornelia durchs Tor kommen sah. Was wollte die denn schon wieder! „Kann die mich nicht endlich mal in Ruhe lassen!“, schimpfte Selina. Seit Cornelias letztem Besuch – an Selinas 30. Geburtstag – waren ungefähr zwei Jahre vergangen. Seither hatte sie es nicht mehr gewagt, im Gefängnis aufzukreuzen, obwohl sich Selina sicher war, dass Cornelia nun wirklich oft nach Tabargha reiste. Hatte die erfolgreiche Juristin einmal ein gutes Geschäft erschlossen, ließ sie nicht mehr locker.
Wie gewohnt trug Cornelia edelsten Stoff auf der Haut. Selina erkannte eine blaue Bluse mit weitem Kragen und ein dezent rotes Halstuch. Dazu trug Cornelia einen schwarzen Minirock und einen ebenfalls schwarzen Blazer. In ihr langes blondes Haar hatte sie einen kessen Zopf geflochten. Sie war in Begleitung von zwei Wärterinnen. Langsam kamen sie näher.
Selina erschrak. Hatte Cornelia wieder irgendeinen Deal gemacht? Musste sie mal wieder in ein anderes Gefängnis? Aber sie wollte nicht weg!
„Verschwinde sofort“, wollte Selina ihr entgegen rufen, doch sie stutzte im letzten Moment. Etwas war heute anders. Conni, die ach so erfolgreiche, selbstbewusste Schwester stolzierte nicht wie sonst. Sie ging unsicher. Selina durchzuckte es wie ein Blitz. Conni war barfuß! Wieso? Conni lief nie barfuß! Angestrengt musterte sie ihre Schwester. Conni lächelte auch nicht. Sie verzog das Gesicht. Dann erst sah Selina das Entscheidende: Cornelia waren die Hände auf den Rücken gefesselt! Sie war eine Gefangene. Unglaublich.
Die Wärterinnen stießen sie zu Boden. Cornelia starrte in den Sand. Sie war völlig verstört, wagte nicht, die Gefangenen anzusehen. Dann lösten die Wärterinnen die Handschellen, aber nur, um Cornelia die Kleider wegzunehmen. Der Blazer segelte achtlos davon. Um die Bluse stritten sich die Wärterinnen heftig. Ebenso um den seidenen BH. Instinktiv überkreuzte Cornelia die Arme vor dem Busen. Doch sofort bekam sie wieder die Hände auf den Rücken gefesselt. Dann balgten sich die Wärterinnen um den Minirock. Cornelias Slip zerfetzten sie dagegen. Für so etwas kannten die Frauen hier keine Verwendung.
„Spionin! Das ist eine Spionin!“, wisperten sich die Sträflinge zu. Eine Aufseherin hatte es ihnen gesagt. Selina wusste sofort, dass es sich hier um eine Intrige von Cornelias Geschäftspartnern handeln musste. Cornelia hatte keinen Grund zu spionieren. Aber wer nach Tabargha reiste, sollte wissen, wohin man sich begab.
Wie elektrisiert beobachtete Selina die Demütigung ihrer Schwester. Doch schnell ertappte sie sich dabei, gewisse Genugtuung zu empfinden. Was hatte sie immer unter der Strebsamkeit Cornelias gelitten! Sicher, sie hatte sich oft um Selina gekümmert, aber nie, ohne dabei ihre Überlegenheit zu betonen. Jetzt hockte sie im Gefängnis. Nackt. Gefesselt. Fassungslos.
„Tja, Schwesterchen! Das ist das erste Mal, dass Du Deiner nichtsnutzigen Selina nacheiferst! Und dann gleich so.“ Selina schämte sich etwas für diese Gedanken. Cornelia starrte immer noch verstört zu Boden, als sie in ein flaches Gebäude am Ende des Hofes gezerrt wurde. Es war der Trakt mit den Todeszellen. Selina sah ihr erschrocken nach. „Arme Conni“, dachte sie, „das hast Du nicht verdient.“
Zwei Jahre später stand Cornelia vor Selinas Zelle. Ihr nackter schlanker Körper war völlig verdreckt, das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, die Augen blickten ins Leere. Cornelias Arme waren mit einem Seil am Rücken zusammengebunden. Das hieß, dass der Galgen schon vorbereitet war. Am Abend vor der Hinrichtung wurden die Gefangenen in Tabargha stets mit einem Seil gefesselt – zum letzten Mal.
Die Schwestern sahen sich schweigend an. „Mach’s gut, kleines Blumenkind“, flüsterte Cornelia mit Tränen in den Augen. Sie war 39 Jahre alt. Die Frauen küssten sich kurz auf den Mund. Das Letzte, was Selina von ihrer Schwester sah, waren die gefesselten Hände über ihrem Po – zu Fäusten geballt. Dann war Cornelia weg.
 

IX.
Die Wärterin löste Selinas Handschellen und reichte ihr eine zerfledderte Bluse und einen nicht minder zerlumpten roten Rock. „Anziehen!“ Selina zögerte, starrte ungläubig auf die Kleidungsstücke, betastete sie mit zitternden Fingern. Kleidung. Sie sollte Kleidung tragen.
„Sind die 20 Jahre schon um?“, fragte Selina irritiert.
„Sind sie“, beschied die Wärterin knapp. „Heute lassen wir Dich raus.“
Selina erschrak. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Jahr um Jahr friedlich vor sich hingedämmert. Mit sich und ihrem Leben im Reinen. Jetzt sollte sie raus. Sie war erstaunt, dass Glücksgefühle noch auf sich warten ließen. Auch der Gedanke, ab jetzt Kleidung zu tragen, befremdete die Gefangene. Stoff auf der Haut – wie fühlt sich das an? 26 Jahre war sie nackt gewesen. Ohne Unterbrechung. An Scham konnte sich Selina nicht mehr erinnern. Das mochte am Anfang der Haft gewesen sein, als sie noch ein naives Hippiemädchen war, das die große Freiheit suchte. Doch nur wenige Jahre als Kettenhäftling hatten genügt, um jedes Gefühl von Scham zu verlieren. Selina fand es längst normal, nichts als Eisen am Körper zu tragen. So normal, dass sie der Anblick der Kleidung fast in Angst versetzte.
„Nun mach schon“, drängte die Wärterin, „wirst doch wohl noch wissen, wie man einen Rock trägt, oder?“
Langsam zog Selina den Rock an. Er reichte ihr ein Stück über die Knie, war weit geschnitten und auf der linken Seite bis hinauf zur Hüfte geschlitzt. Irritiert schaute Selina an sich herab. „Reicht das nicht?“, fragte sie plötzlich.
„Hä?“ Die Wärterin war einen Moment sprachlos. „Das kann ja wohl nicht sein. Du hast zwar einen geilen Busen, aber deshalb wirst Du doch wohl nicht mit nacktem Oberkörper in die Freiheit gehen wollen, oder? Wie eine Nutte. Du bist bald frei! Ja – kapierst du? Frei! Los, zieh‘ jetzt die Bluse an!“
Selina gehorchte. Wie erwartet war das Kleidungsstück zu klein. Oben quollen die prallen Brüste aus dem ohnehin tiefen Dekolleté, unten endete die Bluse weit über Selinas Nabel. Doch weil die Gefangene trotz ihrer 44 Jahre die Figur einer jungen Traumfrau besaß, sah sie in den Lumpen überaus verführerisch aus.
Immer noch schaute Selina stumm an sich herab. Der Stoff rieb ungewohnt. Der Anblick des roten Rocks irritierte sie. Wenigstens musste sie nicht auch noch Schuhe anziehen.
„Die Sachen sind zwar nicht mehr die neuesten, sie stehen Dir aber super!“, sagte die Wärterin, während sie Selina die Hände wieder auf den Rücken fesselte.  „Bis heute Abend musst Du Dich noch gedulden. Außerdem müssen wir schauen, dass wir irgendwie die Fußkette aufkriegen. Die Schlösser sind ja seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden.“ Dann brachte sie Selina zurück in die Zelle.
Die Häftlinge begannen zu lächeln und anerkennend zu pfeifen. Unsicher trottete Selina auf ihren Platz. Es war, als schämte sie sich ihrer Kleider. Doch die nackten Frauen um sie herum gaben keine Ruhe. „Heiß siehst Du aus, ehrlich“, sagte Kari, „die Männer werden sich raufen um Dich, Selina!“ Sie meinte es ernst. „Echt zum Anbeißen, unsere blonde Braut!“, lachte Debbie und drückte Selina einen Kuss auf die Wange. „Ich freue mich so für Dich!“ Sogar Tara und Amati lächelten. Einzig Celine saß regungslos an der Wand und starrte auf den Boden. Die jüngste in der Zelle war hier zehn Jahre länger eingesperrt als Selina, hatte aber noch zehn vor sich. Celine war jetzt 41, bei ihrer Entlassung würde sie 51 sein. Das brutale Urteil von 40 Jahren Kerkerhaft war damals der Preis dafür, dem Galgen entkommen zu sein. Das Los Celines trübte Selinas Freude auf die eigene Freiheit. Sie setzte sie sich neben die traurige Gefangene und sprach ihr gut zu. „Ich war sechs Jahre auf der Teufelsinsel. Da hätte ich eigentlich sterben sollen. Hoffnung ist also immer berechtigt!“ Dann küsste sie Celines tränenüberströmten Wangen.
„Es ist nicht mehr das Gefängnis, das mich quält“, begann Celine leise zu sprechen, „inzwischen ist es die Freiheit, die mir Angst macht, und zwar gerade weil sie in so weiter Ferne liegt. Ich bin hier eingesperrt, seit ich elf bin. Ich habe mich längst daran gewöhnt, andauernd nackt und gefesselt zu sein. Ketten fürchte ich keine mehr. Aber wenn ich rauskomm‘ bin ich eine alte Frau, die nichts als den Kerker kennt, eine Frau, die 40 Jahre Leben verpasst hat. Werde ich mich dann in der freien Welt überhaupt noch auskennen? Davor habe ich Angst!“
Gedankenverloren richtete Selina den Blick auf die Gittertür. Plötzlich schoss eine erschreckende Vorstellung durch ihren Kopf: „Und was ist mit mir? Werde ich mich draußen noch auskennen? Ich sehe zwar nicht aus wie eine alte Frau, habe in den vergangenen 26 Jahren aber auch nicht viel anderes kennengelernt als den tristen Alltag eines Kettensträflings. Schon Klamotten machen mich unsicher!“ Auf einmal hatte Selina Angst.
Am späten Nachmittag holten sie Selina aus der Zelle und versuchten, zu Dritt die Fußfessel der Gefangenen zu lösen. Doch die Schlösser ließen sich einfach nicht mehr öffnen. „Das ist diese verdammte extra dicke Kette“, klagte eine Wärterin, „die sind eigentlich nicht dafür gedacht, einer Gefangenen je wieder abgenommen zu werden. Da müssen wir wohl morgen einen Schlosser holen.“
„Tut uns leid, Selina“, sagte die Oberaufseherin, „aber eine Nacht musst Du noch im Loch aushalten. Es sei denn, Du willst Deinen Lebensabend in Fußfesseln verbringen.“ Selina zuckte. Lebensabend! Sie hatte wirklich Lebensabend gesagt!
Missmutig schlurfte sie in die Zelle zurück. Die anderen fünf waren bereits an der Wand festgekettet. „Keine Sorge“, tröstete Kari, während die Wärterin Selina zum letzten Mal anschmiedete, „morgen knacken sie die Kette, und dann springst Du wie ein Reh der Freiheit entgegen!“
Doch Selina lächelte nicht. Selina weinte.
 

X.
Selina taumelte nach wenigen Metern. Schwankte. Stürzte fast. Bei jedem Schritt schleuderte sie ihre Füße unkontrolliert nach vorn, weil sie eine Menge Kraft in die Bewegung steckte. Eben so, wie sie es in den vergangenen 26 Jahren andauernd  hatte tun müssen, als sie eine über zehn Kilo schwere Kette zwischen ihren Füßen schleppte. Jetzt war dieses Gewicht plötzlich weg. Heute, am Tag der Entlassung, musste Selina das Laufen wieder neu lernen.
Nachdem das Eisen abgefallen war und sie erste Schritte wagen durfte, hatte sich eigenartigerweise kein befreiendes Gefühl eingestellt, wie es sich Selina in ungezählten Kerkernächten erträumt hatte. Vielmehr spürte sie Beklemmung, da sie sich nicht so bewegen konnte, wie sie es gewöhnt war. Total paradox, dachte Selina und taumelte weiter Richtung Freiheit.
Hinter der kleinen Gittertür in der Mauer des Gefängnisses von El Inar strahlte das schreckliche Land Tabargha in spätwinterlicher Pracht. Klarer Himmel, milde Luft, Sonne tauchte die karge Landschaft in goldenes Licht. Eine schmale Teerstraße führte zur Hauptstadt, die 30 Kilometer entfernt hinter einer Hügelkette lag. Selina stand lang am Gitter und schaute. Die Wärterin war noch einmal zurückgeeilt, weil Celine und Tara aus Verzweiflung zu toben begonnen hatten, als Selina die Zelle verlassen hatte. Es war früher Vormittag. Den Häftlingen waren zu dieser Zeit die Hände über den Kopf gekettet. Kari, Debbie und Selina selbst hatten nur geweint, während Amati mit grimmigem Blick an ihrer Kette hing. Grell tönten die Schreie der Gefangenen durch die Gänge. Selina biss auf die Lippen.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Die Oberaufseherin kam zurück, öffnete erst das Gittertor und dann die Handschellen auf Selinas Rücken. „Du bist entlassen. Also  verschwinde!“, rief sie, stieß Selina über die Schwelle und knallte das Tor zu.
Die Situation überforderte Selina derart, dass sie die Einzigartigkeit des Moments nicht realisierte. Zum letzten Mal hatte sie auf ihrem Rücken Kettenrasseln hören müssen. Zum letzten Mal den eisigen Griff von schwerem Eisen an den Gelenken gespürt. Zum letzten Mal eine Gittertür schließen sehen. Zum ersten Mal seit ihrer Verhaftung konnte Selina Arme und Beine frei bewegen. Sie zitterte.
Schritt für Schritt tappte sie vorsichtig die holprige, einsame Teerstraße entlang. Immer wieder sah sie sich nach dem flachen Gefängnisgebäude um. „Du dummes Mädchen, Du musst jetzt nach vorne schauen, nicht mehr zurück!“, rief sich Selina zu und beschleunigte den Gang. Als der Kerker außer Sicht war, blieb sie stehen. Das Kribbeln im Bauch nahm zu. War es Angst oder verhaltene Freude? Sie saß  am Straßenrand und betrachtete ihre staubigen nackten Füße. Zwei helle Ringe in der braungebrannten Haut über den Knöcheln markierten die Stellen, wo jahrelang die Eisenschellen ihren Platz hatten. „Ich bin doch erst 44. Also jung genug für ein neues Leben“, flüsterte Selina und stand auf. Ihr Gang wurde immer sicherer. Ihre Laune besserte sich. Sie lief weiter. Die Hauptstadt lag noch fern.
Selinas Freiheit war kaum eine Stunde alt, als sie instinktiv ihre Bluse auszog. Ein paar Kilometer weiter schlüpfte sie aus dem Rock. Jetzt erst fühlte sie sich richtig frei! Summend tänzelte sie den Weg entlang. Ihr Busen wog wuchtig auf und ab. Selina fröstelte nicht, obwohl noch Vormittag war, und die Temperatur um diese Jahreszeit selten 15 Grad erreichte. Fast hätte sie die Kleider einfach in den Straßengraben geworfen. Im letzten Moment besann sie sich. „Du bist frei, dummes Mädchen! Musst nie mehr nackig sein!“ Was für eine ungewohnte Vorstellung, dachte Selina und schnürte Rock und Bluse zu einem Bündel zusammen.
Sie sah an ihrem schlanken Körper hinunter. „Hast dich gut gehalten. Jahrzehnte im Loch gehockt, aber weder Fettpolster noch Hängetitten bekommen. Dazu keine grauen Haare. Respekt! Wirst irgendwem schon noch gefallen.“ Nun lächelte sie.
Am Fuße eines steilen Hügels blieb sie abrupt stehen. Von oben kam ihr ein Zug von Sträflingen entgegen. Zwei Polizisten eskortierten fünf Frauen in gestreiften Häftlingshosen. Alle barfuß, an den Hälsen zusammengekettet, die Hände auf den Rücken gefesselt, die Oberkörper nackt. Sie schienen zwischen 15 und 40 Jahre alt. Entsetzt starrten sie Selina an. Die Polizisten grinsten. In ihrem früheren Leben hätte Selina vermutlich schamhaft das Kleiderbündel an ihren Busen oder vor ihre Scham gepresst. Jetzt aber stand sie einfach nur da, ebenso nackt wie gelassen, das Knäuel aus Rock und Bluse – ihr einziger Besitz – hielt sie locker in der Hand.
„Ah, diese Dame hat es schon hinter sich“, sagte ein Polizist im Vorbeigehen. „Ist  noch sehr jung für eine Entlassene. Naja, getürmt wird sie kaum sein! Aber warum so nackig, schöne Frau? Oder sollen wir Dich gleich wieder mit zurück nehmen?“ Skrupellos griff er plötzlich nach Selinas Busen. „Wow, was für Titten!“ Der Polizist schaffte es nicht, eine Brust mit je einer Hand ganz zu umfassen. „Mann, o Mann“, stöhnte er. „An diesen Titten kommt keiner vorbei! Lasst uns schnell weiter gehen. Wie schön, das diese Dinger wieder frei sind!“ Er lachte. Selina ließ alles seelenruhig geschehen. Immerhin war das irgendwie ein Kompliment – wenn auch ein derbes.
„Schaut die Frau nur an, Ihr kleinen Knastmäuse!“, rief der andere. „Gleich werdet Ihr ebenso nackt sein. Und ordentlich in Eisen gelegt!“ Beide lachten.
Selina erwiderte die gequälten Blicke der Frauen emotionslos. Dann lief sie weiter. Als sie das Randgebiet der Hauptstadt erreichte, war es dunkel. Straßenlicht gab es in diesen Armenvierteln nicht. Deshalb beschloss Selina, dass sie genauso gut nackt bleiben konnte. Es sah sie ja eh keiner. In einem Müllhaufen am Ende einer Gasse entdeckte sie zwei angeschimmelte Birnen. Die essbaren Teile schlang sie hungrig herunter. Ein Stück weiter stand ein halb verfallenes, leeres Haus. Steine übersäten den Boden im Keller. Der Raum maß in etwa acht Quadratmeter. Selina konnte hier nur gebückt gehen. Sie räumte einen Fleck frei und legte sich hin. Erst benutzte sie das Kleiderbündel als Kissen, warf es aber bald wieder fort und bettete den Kopf auf den nackten Boden. So wie in all den Nächten der vergangenen 26 Jahre. Das Dunkel des muffigen, schmutzigen Kellers gab ihr Geborgenheit.

XI.
Durch die kleine Öffnung unter der Kellerdecke drang Sonnenschein. Selina stand vor der Öffnung und beobachtete die Füße vieler Menschen auf der Straße. Mehr sah sie nicht. Es waren zumeist nackte Füße, die am Kellerfenster vorbei liefen. In einem Armenviertel war das normal. Selina wagte sich noch nicht nach draußen – die Masse machte ihr Angst. Warum sollte sie auch ans Tageslicht? Um Essen zu suchen war Dunkelheit viel geeigneter. Entspannt lief sie in ihrem Versteck umher, hockte herum, schlief einige Stunden, sah durch das Fenster. Lief wieder umher. Dann entdeckte sie in einer Nische eine 30 Zentimeter lange, leichte Kette und ein Vorhängeschloss, in dem noch der Schlüssel steckte. Offenbar hatten es die früheren Bewohner vergessen. Selina konnte damit die Tür zum Keller abschließen. Zur Sicherheit vor ungebetenem Besuch.
Am Abend zog sie los. Ihre Kleidung ließ sie zurück. Wozu bitte brauche ich Bluse oder Rock, wenn ich Müll durchwühle, dachte sie. Um diese Zeit war niemand mehr auf der Straße. Selina schlich eng an den Häusermauern entlang. Irgendwo fand sie eine große alte Plastikflasche, ein Stück weiter eine Regentonne. Wasser! Sie trank und füllte die Flasche. Langsam näherte sie sich einem besseren Viertel. Hier gab es üppig gefüllte Mülltonnen mit reichlich Speiseresten. Sie packte  eine ganze Tüte zusammen, dann lief sie zurück. Bis zu ihrem Kellerloch waren es mehrere Kilometer, doch Selina genoss jeden Meter. Sie war frei und hatte genug  zu essen. Zufrieden streifte sie durch die Nacht. Nackt. Die Kälte kümmerte sie nicht. Ebensowenig die Hitze im Sommer. Nach Jahrzehnten völliger Nacktheit kümmerte Selina das Wetter gar nicht mehr.
Auch in den folgenden Nächten streifte Selina erfolgreich durch das Viertel mit den gut gefüllten Mülltonnen. Ganz selten nur begegneten ihr auf den dunklen Straßen Menschen. Und wenn schon, dachte Selina. Niemand erwartete hier nachts eine splitternackte 44-jährige Frau, die im Müll wühlt. Bis die Leute realisierten, was sie da sahen, war Selina längst in einer Seitengasse verschwunden. Bald konnte sie wieder laufen und sogar rennen, als hätte sie nie Eisen an den Füßen gehabt. Sie kletterte über Mauern und Zäune wie ein junges Ding. Ihre Sohlen waren sowieso durch ständiges Barfußlaufen seit ihrer Jugend in Bremen hart wie Leder.
Tagsüber lag sie in ihrem finsteren Kellerloch und genoss die Freiheit. Viele Wochen lebte sie so. Die Kleider, die sie bei ihrer Entlassung erhalten hatte, lagen die ganze Zeit ungetragen im Eck. Selina vermisste keinen Stoff auf der Haut. Schon lange nicht mehr. Sie hatte vor 26 Jahren leidvoll lernen müssen, sich mit einem Leben in Blöße abzufinden. Bald hatte sie ihr Schicksal akzeptiert. Später konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, wie es war, den Körper zu verhüllen. Heute, nach ihrer Entlassung, lösten Kleidungsstücke bei ihr regelrechte Beklemmungen aus. Nur nackt fühlte sie sich wohl in ihrer Haut.
Irgendwann, als die Hitze des Frühsommers schon bis in Selinas Versteck drang, beschloss sie, dass es so nicht weitergehen durfte. Zwar hatte sie ausreichend zu essen und fühlte sich wohl in dem kargen Keller. Jedes Leiden an Langweile hatte sie sich im Kerker zwangsläufig abgewöhnt. Sie konnte einen ganzen Tag auf dem harten Lehmboden im Halbdunkel sitzen und ihren Gedanken nachhängen, ohne Frust zu empfinden. Im Gegenteil: die engen, schmutzigen Mauern hier gaben ihr ein Gefühl von Vertrautheit. Und Vertrautheit brauchte sie in dieser fremden Welt. Einzig der Wunsch, wieder unter Menschen zu sein, drängte Selina immer mehr, nach draußen zu treten. Ans Tageslicht. Mitten in die Welt. In ein normales Leben. Doch der Gedanke erfüllte Selina mit Angst. Sie kannte diese Welt da draußen gar nicht mehr. Wie würden wiederum die Menschen auf eine Frau reagieren, die 26 Jahre in Ketten gelegen hatte? Allein der Anblick der ungezählten Füße, die sie vor dem Kellerfenster laufen sah, ließ Selina zittern. Diese Menschenmasse! Und sie mittendrin? Niemals! Wie schön war es doch, allein im Keller zu sitzen!
Nachdenklich drehte sich Selina vom Fenster weg und kauerte sich in eine Ecke. „Wo ist eigentlich mein Problem?“, dachte sie. „Ich habe doch alles. Und viel brauche ich auch nicht. Nicht mal Kleider.“ Doch sofort überkam sie das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, jemand zu lieben. Lächelnd dachte Selina an die Küsse mit Kari, an Debbies und Celines flinke Finger, die überall hinkamen. Ebenso wie ihre Zungen. „Ich muss raus hier!“, sagte sie immer wieder laut vor sich hin. Abrupt griff sie nach dem Kleiderbündel und begann, es auseinanderzuwickeln. Doch fast im selben Moment warf sie es wieder in die Ecke, legte sich daneben und presste das Gesicht auf den Boden. „Ich muss endlich eine Entscheidung treffen“, flüsterte sie. „Ich muss wählen, ob ich ins Leben zurückkehren will, oder mein eigenes Leben fortsetzen will.“ Selina schluchzte. Trommelte mit den Fäusten auf die Erde. Lief zum Fenster. Sah die vielen Menschen auf der Straße und warf sich wieder auf den Boden. Die Jahrzehnte im Kerker hatte sie nur überlebt, weil sie zu einer meditativen Art innerer Ruhe gefunden hatte. Sie hatte gelernt, ihre Zelle als Ort völligen Friedens zu begreifen – während draußen überall Leid, Not und Gemeinheit herrschten. Sie hatte sich in ihre Ketten versenkt und es als Geschenk empfunden, der entsetzlichen Welt jenseits der Gitterstäbe nicht ausgeliefert zu sein. Nur so konnte sie im Verlies Panikanfälle vermeiden. Doch jetzt war sie draußen. Leid und Not ausgesetzt. Und panisch vor Angst, ihre innere Ruhe zu verlieren.
Irgendwann weinte sie – weinte wie zuletzt an jenem Tag vor 26 Jahren, da sie auf der Teufelsinsel in Ketten gelegt wurde. „Ach wäre ich doch nur hier an die Wand gekettet“, wimmerte Selina, „dann würde ich nicht vor der schweren Entscheidung stehen, wohin ich will! Dann käme ich gar nicht erst in Versuchung, draußen in der Menschenmasse ein normales Leben zu beginnen.“ Keinerlei Wahl  haben – das war die Lösung! Doch weil sie leider nicht angekettet war, beschloss Selina, sich einfach keine Wahl zu lassen. Das einzige, was sie im Moment überhaupt noch mit der zivilisierten Welt verband, waren ihre Kleider, die seit Monaten im Keller lagen. Mit einem Feuerzeug, das Selina irgendwo in Müll gefunden hatte, setzte sie erst den Rock in Brand, dann die Bluse. Zufrieden verfolgte sie, wie die Flammen den Stoff aufzehrten. Sie hatte die Kleider von Anfang an gehasst. Wozu sollte sie ihre Beine verhüllen und ihren Busen in eine Bluse zwängen? In Kleidern bekam sie Beklemmungen. Ebenso wie in einer Masse fremder Menschen. Selina wollte sich niemals mehr irgendwelchen Zwängen unterwerfen. „26 Jahre habe ich leben müssen wie ein Tier“, rief sie sich zu. „Wie ein Tier im Käfig. Ab heute werde ich leben wie ein Tier in Freiheit!“
Endlich hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Für immer nackt. Für immer frei.

XII.
Selina räkelte sich in ihrem Kellerloch und strahlte. Die Hitze des Sommers drang schwer bis zwischen die muffigen kahlen Mauern. Schweißtreibend verliefen auch die nächtlichen Streifzüge. Lächelnd betrachtete Selina ihren Besitz: die Plastikflasche, der Beutel, in dem sie ihr Essen sammelte, ein stumpfes Messer, mit dem sie faulige Teile aus Obst schälte, Feuerzeug, zwei Kerzen, Kette und Vorhängeschloss, womit sie die Kellertür absperrte, und ein Seil, das sie aus einer Tonne geangelt hatte. Eines Tages ertappte sich Selina dabei, wie sie gedankenverloren ihre Füße zusammen fesselte. Sie erschrak. Löste den Knoten sofort wieder und schämte sich. Sehnte sie sich nach Fesseln zurück? Nein, das konnte nicht sein. Selina hatte all die Ketten immer gehasst. Zumindest fast immer. Schon bald nach ihrer Ankunft im Kerker von El Inar hatte sie das schwere Metall, die Eisenschellen an Händen, Hals und Füßen mit Gleichmut ertragen. Zwangsläufig. Genuss hatte sie in Fesseln nie empfunden, allerdings bald auch keine Qual mehr. Das musste sie ehrlich zugeben. Kein Genuss und keine Qual. Wirklich gehasst hatte Selina die perfideren Varianten der Demütigung: Prügel, Stunden im Kreis laufen, Essen mit auf den Rücken geketteten Händen. Das war endlich vorbei.
Gedankenverloren schnürte Selina zwei eng aneinander liegende Schlingen in das Seil, steckte die Hände durch und zog dann die Knoten mit den Zähnen fest. Ganz fest. Fachmännisch musterte sie ihre Hände. Sie waren richtig gefesselt. Wie von einer Kerkermeisterin. Die Gelenke dicht beisammen, das dünne Seil sehr fest um die Haut geschlungen, ohne jedoch die Adern abzuschnüren. Eben perfekt. Selina lächelte. Der Schreck riss sie aus ihren Gedanken. „Ich habe mich gefesselt! Ich habe mich selbst gefesselt!“ Selina zitterte. „Ich muss verrückt sein! Total gestört! Fessle einfach meine Hände zusammen! Völlig versaut vom Kerker!“ Das Zittern wurde nicht besser, als Selina realisierte, dass sich das Seil nicht mehr abnehmen ließ. Es war perfekt verschnürt, die Knoten fest verschlungen. Das Messer erwies sich als zu stumpf. Selina presste das Gesicht zu Boden. Sie zitterte. „Ich bin nicht mehr normal! Ich bin 44, lebe seit Monaten splitternackt irgendwo in Nordafrika in einem dreckigen Keller, und dann fessle ich mich auch noch selber. Verdammt!“
Stundenlang kauerte sie so da. Dann zog sie in die Nacht. Fischte Essen aus den Tonnen. Mit gefesselten Händen - eine aufregende neue Erfahrung. Es gelang ihr problemlos. Bis zum Morgengrauen lag sie auf dem Rasen einer Vorstadtvilla mit noblem Pool und niedriger Mauer, die sie bequem überklettern konnte. Sie genoss das Gras und betrachtete das Seil an ihren Handgelenken. „Wirklich gefesselt bin ich doch gar nicht“, überzeugte sie sich. „Ich kann ja fast noch alles machen. Ganz im Gegensatz zu früher. Da waren wir richtig gefesselt. Hände auf dem Rücken. Dagegen ist das hier ja läppisch.“
Dann dachte sie an Lizzi, Kari und all die anderen, die immer noch in Ketten lagen und es nicht so schön hatten wie sie. Dabei kam Selina die Idee: „Ich bin gar nicht verrückt. Ich habe meine Hände aus Solidarität zu meinen früheren Mitgefangenen zusammengebunden. Das war alles. Eine nette Geste!“ Und überhaupt, dachte sie weiter, fühlen sich Fesseln nicht wirklich unangenehm an, wenn sie richtig angelegt sind – und man es gewöhnt ist. Wie sie.
Zwei Tage und Nächte verbrachte Selina mit ihrer Handfessel. Fast hätte sie sich daran gewöhnt, doch dann verfiel sie wieder in Selbstanklage. „So kannst Du nicht länger leben. Doch nicht so, dummes Kind!“ Am frühen Morgen des dritten Tages rieb Selina das Seil so lange an einer Mauerkante ihres Kellers, bis es endlich riss. „Solidarität“, flüsterte sie immer wieder, während sie das Seil betrachtete. „Ich bin in Gedanken bei Euch, Ihr armen Knastmäuse. Ihr müsst in Ketten liegen, während ich nachts auf dem Rasen einer Villa sitze.“
Vermutlich war es eine Kurzschlusshandlung, als Selina die Kette packte, mit der sie stets die Kellertür abschloss, und sie um ihr linkes Handgelenk schlang. Sorgfältig führte sie das Vorhängeschloss durch zwei Kettenglieder, bis das Eisen eng auf der Haut lag. Selina staunte über ihre Fingerfertigkeit, als ihr das selbe an der rechten Hand gelang. „Aus Solidarität mit Euch!“, keuchte sie aufgeregt, als sie das Schloss mit Daumen und Zeigefinger zudrückte. Selinas Handgelenke waren nun eng zusammengekettet. „Lizzi!“, schrie sie jetzt, „Kari! Samira! Debbie! Celine! Ihr armen Sträflinge. Ich bin immer, immer, immer bei Euch!“
Dann steckte sie den Schlüssel des Vorhängeschlosses in den Mund und spuckte ihn durch das Kellerfenster auf die Straße.

XIII.
Der alte Mann lächelte beim Anblick ihrer Blöße. Selina hatte ihn nicht kommen sehen. Gewitterwolken verdunkelten den Mond, und die Mülltonne, in die sie vertieft war, hatte ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert. Erschrocken drückte sie sich an die Wand des Hinterhofs. Sie saß in der Falle. Trotzig musterte sie den Mann. Es war ihr egal, was nun passierte.
„Sie müssen mich entschuldigen“, sagte der Mann, „aber ich kann nachts schlecht schlafen. Dann laufe ich gern durch die Straßen.“ Er hatte gepflegtes weißes Haar und trug gediegene Kleidung. „Sie sind aus dem Gefängnis geflohen?“
Selina brachte nur ein zustimmendes Krächzen hervor.
Ruhig betrachtete er Selinas gefesselten Hände. „Sie waren sehr lange im Kerker, habe ich recht?“
„Kann schon sein“, brummte Selina.
„Wissen Sie, woran ich das merke?“ Er lächelte wissend und deutete mit seinem Spazierstock auf Selina. „Sie zeigen keinerlei Schamgefühl. Sie zucken nicht mehr zusammen, wenn Sie von Fremden gemustert werden. Und das, obwohl Sie völlig nackt sind. Jede andere Frau hätte instinktiv versucht, ihre Blöße zu bedecken.“
„Mir egal“, brummte Selina immer noch recht unfreundlich. „Ich habe jetzt wirklich keine Lust auf Diskussionen über das Nacktsein. Lassen Sie mich bitte vorbei!“
Der alte Mann wich nicht von der Stelle. „Entschuldigen Sie meine Geschwätzigkeit. Aber ich kenne das Phänomen. Ich habe 40 Jahre lang als Anwalt gearbeitet. Ich habe viele hundert Gefangene vertreten und auch im Kerker besucht.“
„Ach, Anwalt waren Sie?“ Selina schnaubte, aber insgeheim war sie stolz auf ihre Courage. „Wozu bitte braucht man in diesem Scheiß-Land Anwälte? Habt Ihr hier etwa Gesetze? Oder faire Prozesse? Mich jedenfalls haben sie damals einfach so in Ketten gelegt und weggeschlossen. Einen Anwalt habe ich nie gesehen.“
„In Tabargha herrscht Willkür, da haben Sie recht. Aber ein paar Aufrechte, die für einen Rechtsstaat eintreten, lassen nichts unversucht, dem entgegenzutreten.“
Selina lächelte bitter. „Blöd, dass wir uns nicht vor 26 Jahren begegnet sind. Und Sie sind also einer von diesen Aufrechten, ja?“
„Ja!“, sagte der alte Mann. „Ich werde es Ihnen beweisen. Kommen Sie mit!“
„Jaja, helfen und so.“ Selina funkelte böse. „Sie wollen mich doch nur ficken!“
„Hören Sie doch auf“. Er sah sie milde lächelnd an. „Wissen Sie, ich bin 72 Jahre alt, war vier Mal verheiratet und hatte währenddessen mindestens drei Mal so viel Geliebte. Ich bin alt und helfe Ihnen ohne Hintergedanken. Kommen Sie schon!“
Selina wollte erst wegrennen. Sie wusste nicht, warum sie dem Mann artig folgte. Nach 20 Minuten erreichten sie sein Haus. Marmor dominierte das noble Interieur. Unsicher tappte Selina durch die vornehmen Gemächer. Ihre nackten Füße hinterließen am Boden Dreckspuren. Der Mann deutete auf ein Kanapee. Selina glaubte darin zu versinken. Seit ihrer Verhaftung hatte sie nicht mehr so weich gesessen.  Irritiert blickte sie herum. Irgendwelche Schamgefühle spürte sie in der Tat nicht. Aber so splitternackt, schmutzig und gefesselt fühlte sie sich hier völlig deplaziert. Langsam entspannte sie sich. Im Schneidersitz thronte sie im Polster und rauchte eine der Zigaretten, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Die Kette um ihre Handgelenke klimperte leise bei jedem Zug.
„Ich bin Dr. Abidin“, sagte der Anwalt und ergriff ihre Hände.
„Ich bin die Selina.“ Als sie ihm die Hände reichte, ruhte sein Blick auf ihrer Fessel.
„Leider habe ich kein Werkzeug im Haus. Sonst könnte ich Ihre Kette gleich lösen. Sie sind mit Hilfe eines Vorhängeschlosses gefesselt. Das ist sehr ungewöhnlich. Wie haben Sie es eigentlich geschafft zu fliehen?“
Kurz war Selina versucht, ihre Geschichte zu erzählen. Rechtzeitig hielt sie inne. „Vorhängeschloss hin oder her. Ist doch egal. Ketten sind Ketten.“
„Da haben Sie leider recht. Es gibt viel zu viele Ketten in diesem Land.“ Plötzlich sprang Abidin auf. „Aber einen Bademantel werde ich Ihnen bringen!“
„Nein, nicht!“, rief Selina. „Ich bin seit 26 Jahren nackt. Da brauche ich jetzt auch keinen Bademantel mehr. Wirklich nicht. “
„Gut, wie Sie wollen.“ Abidin setzte sich wieder. „Das ist zwar auch ungewöhnlich, aber wenn eine schöne Frau wie Sie in meiner Gegenwart lieber nackt bleiben will, werde ich dem natürlich nicht im Wege stehen. Auch als alter Mann.“ Er sah sie lang an – bewundernd, nicht gierig. Der weißhaarige Anwalt war der erste hier, der sie als Mensch wahrnahm und ebenso behandelte.
Er rutschte in seinem Sessel zurück, zog an seiner Pfeife und begann zu erzählen. „Ich kenne das Phänomen. Ich hatte einmal eine Mandantin, die 20 Jahre lang im Gefängnis saß, bis ich sie frei bekam. Danach wohnte sie auf dem Anwesen ihres Bruders. Immer wieder ist sie aus den Kleidern geschlüpft. Sie schlief freiwillig im Stall. Nach 20 Jahren Kerker fand sie nicht mehr in ein normales Leben zurück.“
Selina sah betreten auf den bunten Perserteppich und griff nach einer Zigarette. Ihr Schneidersitz ermöglichte einen guten Blick auf ihre Scheide, aber Selina schämte sich immer noch nicht. Vermutlich würde sie nie mehr etwas beschämen.
„Kennen Sie einen Anwalt namens Badubakabah?“, fragte sie nach einer Weile.
„Ach Gott. Badubakabah.“ Abidin seufzte. „Den kennen Sie? Ich kenne ihn auch sehr gut. Leider. Er war einer meiner größten Widersacher. Er ist ein – mit Verlaub – widerlicher Mensch. Haben Sie ihn beim Prozess kennengelernt?“
„Ich habe niemals einen Prozess bekommen. Nein, Badubakabah habe ich auf der Teufelsinsel, ... na ja, getroffen. Angeblich kam er im Auftrag meiner Eltern. Sechs Jahre später hat er mich von dort zurückgeholt. Im Auftrag meiner Schwester.“
Abidin nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife. „Er hat großen Einfluss. Seit 20 Jahren ist er ja sogar Minister. Allerdings hat er auch ein großes Problem. Wussten Sie, dass seine jüngste Tochter seit fast 27 Jahren auf der Teufelsinsel inhaftiert ist? Das quält Badubakabah – nicht etwa wegen des Mädchens, sondern wegen seiner gesellschaftlichen Reputation.“
„Vor fast 27 Jahren?“ Selina wurde neugierig, „da kam ich auch auf die Insel.“
„Ich habe den Prozess seinerzeit verfolgt. Eine leidige Drogensache. Minimale Menge, maximale Strafe, wie das leider so ist bei uns. Cori Badubakabah war erst 15, als sie verurteilt wurde. Ein hübsches, intelligentes Mädchen.“
„Cori!“ Selina fiel fast vom Kanapee. „Ich saß mit ihr im Kerker! Wir sind wochenlang zusammengekettet gewesen. Wir kamen gemeinsam auf die Insel! Cori! Jetzt weiß ich, warum sie immer nur Böses über ihren Vater erzählt hat. Dass das dieser Badubakabah war, hätte ich nicht gedacht.“ Selina kamen vor Rührung fast die Tränen. Coris Eltern hatten sie nie im Kerker besucht, sondern immer nur verleugnet.
„Ich habe letzthin erfahren, dass sie noch lebt. Sie ist heute 41. Ich habe bereits ein Gnadengesuch für sie eingereicht. Im Gegensatz zu ihrem Vater – und der ist Justizminister!“ Abidin hielt kurz inne. „Es herrscht großes Unrecht in Tabargha. Unser grausames Gerichtssystem dient der Abschreckung, aber auch der Volksbelustigung. Männliche Häftlinge verschwinden sofort in den Bergwerken. Weibliche Gefangene werden bevorzugt in Ketten durch die Öffentlichkeit gezerrt. Jede Woche sterben mindestens vier oder fünf Frauen in der Stadt am Galgen. Immer nackt. Es ist beschämend.“
Selina war mittlerweile vom Kanapee auf den Marmorboden gewechselt. Die weichen Polster irritierten sie. Abidin reichte ihr Früchte, die sie sofort aus der Schale schlürfte. Nach wenigen Minuten bemerkte Selina, dass sich das nicht so gehörte. Betreten benutzte sie ihre Hände. Abidin lächelte. Selina begann beinahe sich zu schämen.
„So, Selina. Es ist schon früher Morgen. Ich bringe Sie jetzt ins Gästezimmer.“
„Äh, also...“ Selina stammelte verlegen. „Es ist so, äh. Ich will  ja keine Umstände bereiten, also ... äh.... Haben Sie vielleicht auch eine Keller?“
Abidin musste laut lachen. „Verstehe. Sie sind auch so ein Fall von Kerkerfixierung –  überfordert von der freien Welt.“
Selina kniete am Boden, hielt den Blick gesenkt und nickte stumm.
„Aber nix da!“ Abidin lächelte gütig. „Diese Nacht werden Sie in einem echten Bett schlafen! Und wenn ich Sie daran fest ketten muss!“
Jetzt lächelte auch Selina – nicht ohne sich ein wenig zu schämen.

XIV.
Selina stand vor dem Spiegel und ruderte mit den Armen. Es war ein eigenartiges Gefühl, sie in alle Richtungen bewegen zu können. Fast schien ihr, als hingen die Arme nutzlos links und rechts herunter, seit Anwalt Abidin eine frühere Mandantin – eine erfahrene Einbrecherin – gebeten hatte, das Schloss von Selinas Fessel zu knacken. „In meinem Haus dulde ich keine Fesseln!“, hatte Abidin betont, und die alte Einbrecherin, die vor langer Zeit wegen seines juristischen Geschicks nicht an den Galgen musste, sondern nur 30 Jahre ins Gefängnis, lächelte dabei wissend.
Selina vermisste die Kette an ihren Händen nicht. Dessen war sie sich sicher. Sie sah Abidins Güte als Chance, endlich in ein etwas normaleres Leben zu finden. Es half niemandem, sich aus Solidarität mit Gefangenen selbst zu fesseln. Auch dessen war sich Selina mittlerweile sicher.
Aber wohin mit den Armen! Es kam ihr so unnütz vor, alles problemlos erreichen zu können. Immer noch fasste sie jeden Gegenstand mit beiden Händen an. Auch Löffel oder Zigaretten. Gelernt ist gelernt, dachte sie dann jedesmal und versuchte es auf normale Weise. Wie lang war sie in Freiheit mit der Fessel herum gelaufen? Ende Januar war sie entlassen worden. Das mit der Kette im Kellerloch passierte  etwa Ende April, als es schon sehr heiß war. Abidin hatte sie wohl Mitte Oktober kennengelernt, als die großen Herbststürme übers Land tobten. Fast sechs Monate war es ihr gelungen, mit zusammengeketteten Händen zu überleben und dabei sogar noch Freude am Leben zu entwickeln. Selina war stolz. Dachte an die lauen Sommernächte auf dem Rasen der Villa und die heißen Tage in der kühlen Behaglichkeit ihres Kellerverstecks.
Selina betrachtete sich erneut im Spiegel. Sie hatte gerade gebadet und sich dann ihr Haar, das bereits bis zu den Hüften wallte, auf Schulterlänge geschnitten. „Gut siehst Du aus, Mädel“, lächelte sie ihrem Spiegelbild zu. Das Gesicht frei von Falten, allenfalls von einer attraktiven Reife geprägt. Die blauen Augen hatten ihren bestechenden Glanz zurückgewonnen. Selinas tief braun gebrannter Körper war durch das gute Essen bei Abidin noch um einiges draller geworden, aber weiterhin schlank und straff. Abidin wollte nicht glauben, dass sie heuer schon 45 wurde. Er habe noch nie eine Frau gesehen, die einem Kerker so jugendlich entsteigt. Selina bestärkte ihre großartige Figur darin, nackt zu bleiben. Zwar kam Abidin immer wieder mit Kleidern, aber sie lehnte jedes Mal entschieden ab. Der alte Mann gab lächelnd zu, dass es ihn ehrte, einen so schönen nackten Gast zu beherbergen. Er sorgte sich allenfalls um die Nachbarn. Daher blieb Selina am Tag im Haus und ging nachts spazieren. Abidin schüttelte stets lächelnd den Kopf, wenn Selina früh morgens von ihren stundenlangen Streifzügen heimkehrte. Nackt und fröhlich – und unbeeindruckt von den empfindlichen Temperaturen, denn es war Winter in Tabargha.
Eines Tages im März nahm Abidin Selina zur Seite: „Sie haben einen alten Mann sehr glücklich gemacht! Und es freut mich, Ihnen helfen zu können. Aber langsam müssen Sie ins Leben zurückfinden. Und da Sie auf keinen Fall nach Deutschland zurückkehren möchten, müssen Sie sich dem Leben in Tabargha stellen. Ich habe Ihnen daher eine Arbeitsstelle besorgt. Wohnen können Sie natürlich weiterhin bei mir. Das würde mich sogar sehr freuen.“
Selina erschrak, beruhigte sich aber gleich wieder. Abidin hatte Recht. Sie musste sich der Realität stellen. Bevor sie wirklich alt und grau wurde.
„Eine Dreiviertelstunde von hier, am Stadtrand, ist eine große Gärtnerei mit weitläufiger Plantage. Dort werden Sie arbeiten. Es ist ein schöner Ort. Natur wird Ihnen gut tun! Kleidung werden Sie allerdings tragen müssen. Barfuß können Sie natürlich bleiben. Heute kommt eine meiner Töchter und zieht Sie an.“
Selina schluckte. Allein der Gedanke kostete viel Überwindung. Sicher hatte sie es vorgehabt, wieder zu arbeiten. Aber was passierte, wenn sie unter den Menschen wieder die Angst packte? Doch vermutlich war Abidins überraschende Initiative für sie genau das Richtige.
Abidins Tochter war Mitte 30 und sehr attraktiv. Sie trug einen langen roten Rock aus teurem Stoff und eine weiße Bluse, die nicht billiger aussah. Doch zu Selinas großer Verwunderung ging die Frau barfuß. Offenbar gehörten nackte Füße auch in der besseren Gesellschaft zur Tradition – jedenfalls bei Frauen. Sie hieß Sophia und schien Erfahrung darin zu haben, ehemalige Kettensträflinge zu betreuen. In Händen hielt sie einen Packen Kleidung. Zuerst zog Selina eine lange helle Jeans mit weitem Schlag an. Sie lächelte. Mit so einer Hose war sie einst nach Tabargha gekommen. Bis zu den Knien saß die Jeans eng. Selinas praller Po kam bestens zur Geltung. Unten endete der Stoff ein Stück über ihren bloßen Knöcheln. Selinas braun gebrannter nackter Oberkörper schuf mit der hellblauen Hose einen herrlichen Kontrast. Doch gleich darauf reichte ihr Sophia mehrere Oberteile. Sie sollte alle anprobieren. Ein langes weißes Hemd aus festem Stoff, zwei äußerst freizügig  geschnittene Blusen und mehrere T-Shirts, die jedoch alle weit über Selinas Nabel endeten, weil ihr dicker Busen unter den Shirts sehr viel Platz beanspruchte. Doch sie gefiel sich. Sophia lächelte, ebenso ihr Vater. Selina stand etwas verlegen vor dem Spiegel, konnte nicht recht realisieren, was sie da sah, und bemühte sich, die Beklemmung zu bekämpfen, die sich ihrer langsam bemächtigte. Tapfer lächelnd drückte sie Abidin und Sophia einen Kuss auf die Backe, lief in ihr Zimmer und zog sich dort sofort wieder aus.

XV.
Die Arbeit nahm ihr die Angst. Selina genoss es, den ganzen Tag über warme, weiche Erde zu laufen, Gießkannen oder Harken in der Hand, und mit der Schubkarre hunderte Meter weit an Pflanzungen entlang zu streifen. Sie arbeitete meist allein auf weiter Flur, denn die Plantage war in der Tat riesig. Obwohl der Frühling erst zaghaft seine Wärme schickte, kam Selina schnell ins Schwitzen. Schon nach einer Stunde zog sie ihr Hemd aus und hängte es über einen Pfosten. Nun trug sie nur noch die Jeans. Als der Wind um ihren nackten Oberkörper streifte, jubelte sie vor Glück. Stundenlang harkte sie die ausgedehnten Beete. Ihr Busen schwankte heftig über der Erde. Arbeit tat ihr gut. Sie hielt ihren Körper straff.
„Hey, Du Tittenmonster!“ Selina hatte die drei Arbeiterinnen nicht kommen sehen. Grobschlächtige Frauen Ende 40. „Zieh sofort das Hemd wieder an! Wir sind hier nicht im Puff und auch nicht im Knast! Da kommst Du doch her, oder?“
„Aber wenn mir doch warm ist!“ Selina merkte, dass ihre Begründung wenig stichhaltig klang und schlüpft kleinlaut in das Kleidungsstück.
„Was für eine ordinäre Person!“ Kopfschüttelnd und schimpfend zogen die Frauen wieder ab. Kaum waren sie außer Sicht, warf Selina das Hemd sofort von sich. Sie zog es erst wieder an, als sie am fortgeschrittenen Abend vor Abidins Haus stand. Zuvor war sie nach Sonnenuntergang zwei Stunden lang mit nacktem Oberkörper spazierengegangen. Selina wollte ihre Rückkehr in Kleidung nicht überstürzen. Ein Schritt nach dem anderen. Schön langsam.
Auch in den folgenden Wochen arbeitete sie halbnackt, so oft es ging. Fast täglich aber setzte es deswegen Ärger, meist von zänkischen Mitarbeiterinnen, manchmal auch vom Chef. „Wenn ich Dich noch mal oben ohne erwisch‘, fliegst Du!“, hatte er gewütet. Seither war Selina vorsichtiger. Als die Tage immer heißer wurden, lief  sie ohne Jeans zur Arbeit. Eines ihrer Hemden reichte bis zu den Oberschenkeln – kleidete sie also ausreichend, um unbefangen unter Menschen zu gehen. Kaum in der Gärtnerei angekommen, schlang sich Selina das Hemd locker um die Hüfte. Nur in Abidins Villa durfte sie ganz nackt sein, und Selina genoss es in Fülle. Dann und wann trug sie auch edle bodenlange Röcke mit weitem Schlitz und dazu sehr knappe Tops, die ihren mächtigen Busen nur unzulänglich verhüllten. Sofort setzte das Gekeife der Mitarbeiterinnen ein. Selina verkniff sich die Replik „Ihr seid ja nur neidisch auf meine sexy Figur, Ihr verfetteten alten Kühe“ – obwohl es stimmte.
Gemächlich gewöhnte sich Selina an ihr neues Leben. Die Arbeit in der Gärtnerei entspannte sie. Ab und zu durfte sie mit Kunden durch die Beete streifen und Pflanzen präsentieren. Sie wurde im Umgang mit Menschen nun sicherer. Die Angst verlor sich. Immer noch aber empfand sie Stoff auf der Haut als einengend, völlig nutzlos. Doch sie zwang sich dazu, möglichst gesellschaftsfähig aufzutreten, auch, weil sie merkte, dass die straffen Jeans in Kombination mit dem nicht minder straffen nackten Bauch und prall gefüllten T-Shirts größte Bewunderung hervorrief.
An einem heißen Tag Ende September wurde Selina mit zwei Kunden hinaus zu den Olivenbäumen geschickt. Es waren gediegene Herren in gesetztem Alter, die ihr höflich begegneten, aber ständig auf ihre Beine starrten. Verunsichert  erinnerte sich Selina an ihre Jeans, die irgendwo an einem Zaun hing. Wie dumm von mir, vor solch edlen Kunden nur im knappen Hemd herumzulaufen, dachte sie noch, dann lag sie schon schreiend am Boden. Einer hielt ihre Arme, während der zweite seine Hose fallen ließ und sich stöhnend auf sie presste. In Panik biss Selina um sich. Die Hilfeschreie verhallten ungehört in der Weite der Plantage. Sie hatte keine Chance. Der Himmel über ihr drehte sich, das Keuchen ihrer Peiniger dröhnte, Steine piksten in ihren Rücken. Schreiend ließ sie einer der Männer los, als sich Selinas Zähne tief in seinen Arm bohrten. Sofort packte sie den Hals des zweiten, der schon in sie eingedrungen war, und drückte zu. Aus Keuchen wurde Röcheln. Er rutschte zur Seite. Selina sprang auf. Da entdeckte sie am Weg einen Rechen. Instinktiv griff sie danach und schlug zu. Hart und gnadenlos. Bis beide Vergewaltiger bluteten und brüllten.
Selina rannte. In Panik. Schnaufte verzweifelt. Erreichte die Stadt. Rannte weiter. Schaute sich nicht um. Das Hemd hatte sie irgendwo weggeworfen. Irritiert sahen sich die Leute nach der flüchtenden nackten Frau um. Selina bemerkte nichts um sich herum. Keuchte die Straßen entlang, überquerte mehrere Plätze, hastete mit patschenden nackten Füßen über den Asphalt. Ihre Brüste sprangen wild auf und ab. Ihr langes blondes Haar flatterte wie eine Fahne im Sturm. Selina floh. Vor den Schmerzen, vor aller Demütigung, vor der Scham. Sie wollte nur noch weg. Nichts als weg von hier.
Erschöpft erreichte Selina ein großes Gebäude, das ihr bekannt vorkam. Weinend sprang sie die Stufen hinauf, stieß die Tür auf, rannte durch den Vorraum und fiel schließlich vor den Polizisten in der Wachstube auf die Knie. Selina ignorierte die verdutzten Blicke. „Ich halte es nicht mehr aus“, wimmerte sie mit zitterndem Leib. „Ich kann nicht mehr!“ Keuchend sank sie auf den Boden. „Ich will nicht mehr. Bitte sperrt mich ein!“ Ein Weinkrampf erstickte ihre Stimme. Nur einen Satz brachte sie noch heraus. „Legt mich in Ketten! Bitte!“
 
 

Epilog

Anwalt Abidin sah Selina eindringlich an. In seinem linken Auge stand eine Träne.  „Ich schäme mich sehr. Für mein Land und dafür, Sie nach draußen geschickt zu haben. Ich hätte wissen müssen, dass man Ihnen dort keine Chance lässt. Dafür ist Tabargha zu gnadenlos. Ein schreckliches, ein grausames Land.“
Selina erwiderte den Blick ernst. Aber sie weinte nicht.
„Mein Leben lang habe ich gegen die Ungerechtigkeit gekämpft.“ Abidin umfasste seinen Spazierstock mit zitternden Händen. „Über 40 Jahre. Vergebens. Auch für Sie habe ich nichts tun können. Ich bin alt. Das war meine letzte Niederlage. Es ist vorbei. Tabargha wird sich weiter der Gerechtigkeit verschließen. Leben Sie wohl, Selina.“ Er streckte seine Hand durch das Gitter und strich über Selinas Wange.
Sie küsste die Hand des alten Mannes. Mehr konnte sie nicht tun, denn ihre Arme lagen in Eisen gefesselt auf ihrem Rücken. Immer noch weinte sie nicht. Dafür die anderen Frauen in der Zelle. Abidin war jeden Monat in den Kerker gekommen. Drei Jahre lang. In seinem vornehmen weißen Anzug stand er im düsteren Gang und sprach zu den Frauen, die hinter dem Gitter in Ketten lagen. Heute war sein Abschiedsbesuch. Er ging wortlos. Alt. Gebrochen.
Selina weinte nicht. Auch nicht, als die Wärterinnen kamen und die Kette zwischen ihren Händen lösten. „Ein paar Minuten hast Du noch“, sagte eine, „dann fesseln wir Dich zum letzten Mal.“ Die Gefangenen wandten weinend den Blick zur Wand. Selina aber blieb gefasst. Aufrecht kniete sie in der Zelle. Strich sich durchs Haar, fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht, packte schließlich ihren Busen. Die Titten lagen schwer in den Händen. Selina lächelte. „Zumindest mache ich morgen eine gute Figur“, dachte sie, betrachtete ihre Finger, atmete tief, strich sich wieder durchs Haar und über den Busen, sah nochmals ihre Finger an, atmete tief durch, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, presste die Lippen zusammen, schloss die Augen, sah ein allerletztes Mal auf die Hände. Dann gab sich Selina einen Ruck, holte tief Luft
und überkreuzte schließlich die Handgelenke auf dem Rücken.
„Ich bin bereit“, flüsterte sie. Selina hatte es geschafft, in Würde zu altern, doch es blieb ihr nicht vergönnt, auch in Würde zu sterben. Niemand starb am Galgen würdevoll.
Sorgfältig, sehr, sehr sorgfältig schlangen die Wärterinnen ein langes dünnes Seil um Selinas Handgelenke. Mit einem Kuss verabschiedete sich die Gefangene von den fünf Frauen, neben denen sie die letzten Jahre in Ketten gelegen hatte. Dann wurde sie in die Todeszelle geführt. Selina weinte nicht.
Der enge Käfig stand in einer Ecke des Gefängnishofes. Selina erkannte darin drei  Frauen, ebenfalls nackt, die Hände auf den Rücken gefesselt. Sie trugen schwere Fußeisen und hockten apathisch am Boden. Keine würde je mehr ihre Hände sehen oder sich durchs Haar fahren können. Die drei schienen das erst jetzt zu realisieren. Eine hübsche junge Frau sprach zuerst. Sie hatte kurze schlanke Beine, breite Hüften und einen mächtigen Busen. „Wie geschaffen für eine öffentliche Hinrichtung, das süße Mädel“, dachte Selina traurig.
„Wofür hängen sie Dich?“, fragte die junge Frau gelassen.
„Weiß gar nicht genau“, antwortete Selina ebenso gelassen. „Alles mögliche. Am Ende war es schwere Körperverletzung. Davor auch einiges. Und Du?“
„Sie haben mich mal wieder beim Klauen erwischt. Nichts besonderes, aber diesmal reichte es für den Strick. Weißt Du was?“, kettenklirrend kam die Kleine heran und hockte sich neben Selina. „Ich bin froh, dass es so kommt. Es war ein scheiß Leben. Immer Hunger haben, immer in Lumpen leben, immer der letzte Dreck sein - eben ein scheiß Leben. Ich bin 24 und habe fast nur aus Mülltonnen gefressen.   Immer in Baracken hocken, immer barfuß laufen. Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass morgen alles vorbei ist.“ Selina sah, dass es der Frau ernst war.
Die anderen Todeskandidatinnen blickten ihrem Schicksal weniger gefasst entgegen. Eine war erst 17 und musste an den Galgen, weil sie nach der Schule Hasch geraucht hatte. Sie war ein hübsches Mädchen. Aus gutem Hause. Wimmernd lag sie auf dem kahlen Boden. Die Zukunft hatte strahlend vor ihr gelegen. Ein kleiner dummer Fehler zerstörte alles. Statt einem Leben in Luxus erwartete sie ein Strick um den Hals.
Die vierte Frau in der Todeszelle würde mit 35 sterben. Sie war eine Bankangestellte, die des Betrugs überführt worden war. Ihr schwarzes Haar trug sie modisch kurz geschnitten. Hände und Füße schienen gepflegt. Ebenso die langen Beine. Offenbar hatte sie nur kurz im Kerker gelebt. Stumm presste sie ihr Gesicht gegen die Gitterstäbe. Ihre auf dem Rücken gefesselten Hände ballte sie zu Fäusten. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass morgen alles aus war.
Kurz vor Sonnenuntergang schaute die kleine Diebin Selina mit großen traurigen Augen an. „Ich habe Angst.“, flüsterte sie. „Ich hab schon bei vielen Hinrichtungen zugeschaut. Es ist immer so brutal. Manchmal dauert es über zehn Minuten!“
„Wir werden morgen durch die Hölle gehen“, antwortete Selina. „Es wird furchtbar sein. Aber danach sind wir endlich frei.“
Die Frau zwang sich zu Tapferkeit. Sie sah Selina eindringlich an. „Du kennst mich zwar nicht, und wir werden uns auch nie kennenlernen, aber würdest Du mich jetzt dennoch vielleicht küssen?“
Selina und die kleine Diebin liebten sich mit Tränen in den Augen.
In der Nacht dachte Selina an nichts. Das Leid war endlich vorbei. 48 war sie jetzt. 30 Jahre lebte sie in diesem schrecklichen Land, davon 29 in Ketten. Sie fürchtete das Ende nicht. Sie sehnte es herbei.
Selina weinte nicht, als sie am Morgen kettenklirrend zum Richtplatz schlurften. Es dauerte ewig. Tapfer sah Selina der gierigen Menge ins Gesicht. Hunderte drängten sich, um das Spektakel zu erleben.  Der Querbalken auf dem Podest war etwa drei Meter lang. Dort hingen vier dünne Schlingen. Selina spürte das warme Holz unter den nackten Füßen. Sonst spürte sie nichts außer Erleichterung. Hörte nicht die obszönen Rufe aus dem Publikum, nicht die Schreie der Schülerin und nicht das Schluchzen der anderen Frauen unter dem Galgen.
Selina zuckte nicht, als die Wärterinnen das Seil um ihren Hals fest zurrten. Wieso auch. Wer fast drei Jahrzehnte in Ketten und Kerkern überstanden hatte, brauchte nichts mehr zu fürchten. Aufrecht stand sie da. Der Blick geradeaus. Nackt, schön,  würdevoll. Die engen Fesseln auf ihrem Rücken verstärkten das Gefühl des unabänderlichen Schicksals. Noch hilfloser konnte man nicht sein.
Sie standen über Stunden regungslos auf dem Podest. Die Menge wurde größer, schrie, genoss das Spektakel.  Die Schülerin zerrte an den Fesseln, schloss die Augen, weinte. Die Betrügerin begann zitternd um den Tod zu flehen. Auch die junge Diebin starrte Selina mit großen feuchten Augen und bebenden Lippen an. Die Sonne brannte auf die nackten Leiber der Frauen. Selina spürte nichts.
Die Schülerin starb zuerst. Als der Strick langsam hochgezogen wurde, jubelte die Menge.  Alle Klassenkameraden des Mädchens waren gekommen, um sie in aller Schönheit am Galgen zu bewundern. Sie bekamen viel zu sehen.
Die Betrügerin starb fluchend. Der Balken ächzte, als ihre langen Beine durch die Luft strampelten. Die junge Diebin neben ihr zwang sich nicht hinzusehen. Sie gab Selina einen letzten langen Kuss. Furcht verzerrte ihr hübsches Gesicht. Der Tod vor Augen war fast ebenso grausam wie der eigene Tod. Als die Frau mit den kurzen Haaren endlich still baumelte, begann die kleine Diebin zu flehen. Man ließ sie eine Stunde warten. Die Gnadenschreie verzückten die johlende Meute. Die Leute konnten sich nicht satt sehen an den nackten Frauen, von denen zwei noch alles vor sich hatten. Ein grauenhaftes Spektakel. Selina schwieg, als die nackten Füße der Diebin langsam vom Podest abhoben und die schwere Kette daran zu rasseln begann. Das Klirren dröhnte endlos. Selina schwieg, als die Frau neben ihr verstummte. Nur das Volk brüllte.
Im letzten Moment sah sich Selina selbst. Sie war jung, voller Hippie-Träume und lief von zuhause fort. Warf ihr letztes Paar Schuhe weg, packte den Rucksack und machte sich barfuß auf die Suche nach ewiger Unabhängigkeit. „Weit hast Du es gebracht, dummes kleines Mädchen“, dachte Selina und lächelte. Dann dachte sie nichts mehr. Sie fügte sich friedlich in ihr Schicksal. Die Menge schrie. Der Galgen knarrte. Die Fußkette klirrte und klirrte.

Nach einer elenden Ewigkeit zwischen Himmel und Erde war Selina endlich frei.
 
 

Ende


Zurück